ENSEMBLE Nr. / N° 65 - Mai / Mai 2022

28 Fokus —– ENSEMBLE 2022 /65 B E I M N A M E N N E N N E N Protest gegen 44 764 vermeidbare Todesfälle Zum vierten Mal findet im Juni in und um die Heiliggeistkirche die Aktion «Beim Namen nennen» statt. Für Pfarrer Andreas Nufer sind die Entwicklungen an den EU-Aussengrenzen alarmierend. Von Selina Leu Bei der Aktion «Beim Namen nennen» wird am Wochenende des Flüchtlingstages im Juni jener Menschen gedacht, die auf dem Weg nach Europa ihr Leben verloren haben – seit 1993 sind 44 764 Fälle dokumentiert. Wie genau gedenkt die offene kirche dieser Menschen? Freiwillige lesen während 24 Stunden die Namen der Verstorbenen; das ist das Kernstück der Aktion. In den vergangenen Jahren haben wir die Namen auch auf Stoffstreifen geschrieben und an der Kirchenfassade aufgehängt. Dieses Jahr werden wir die Ereignisse, die zum Tod der Menschen geführt haben, auf Stoff niederschreiben. Und wir planen, eine Holzbrücke aus der Kirche hinaus auf den Bahnhofplatz zu bauen. Eine Brücke? Ja. Damit zeigen wir auf, dass wir sichere Fluchtwege fordern. Denn wer heute in seiner Heimat um sein Leben fürchtet, muss zuerst eine ebenfalls lebensgefährliche Reise auf sich nehmen, um einen anderen Staat um Schutz zu bitten. Die Aktion zum Flüchtlingstag geht nun in die vierte Durchführungsrunde. Warum jedes Jahr diese Wiederholung? Die Gefahr, dass die Aktion durch die jährliche Wiederholung ihre Wirkung verliert, haben wir im Team diskutiert. Aber: Die Situation an den EUAussengrenzen hat sich ja auch nicht geändert – also machen wir weiter. Was genau will die offene kirche mit der Aktion erreichen? Wir verfolgen zwei Stossrichtungen: Einerseits wollen wir der verstorbenen Menschen gedenken. Andererseits ist die Aktion auch als Protest zu verstehen. Mindestens 44 000 Menschen haben unnötigerweise ihr Leben verloren – die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Wie reagieren die Passantinnen und Passanten auf die Aktion? Wir erhalten sehr viel Zuspruch; Kritik gibt es kaum. Offenbar ist man sich über alle Lager hinweg einig, dass die aktuelle Situation so nicht in Ordnung ist. Diese dokumentierten Todesfälle schreien so zum Himmel, da kann niemand im Ernst sagen, ihm sei das egal. Sie haben das Namen-Lesen angesprochen. Ich stelle mir das eindrücklich vor. In der Tat. Die Menschen, die je eine halbe Stunde die Namen der Verstorbenen lesen, müssen sich gut darauf vorbereiten. Es ist für sie eine herausfordernde, meist auch spirituelle Erfahrung. Viele kämpfen mit den Tränen. Die offene kirche arbeitet für die Aktion mit vielen Freiwilligen zusammen. Beim ersten Mal haben sich rund 500 Menschen beteiligt. Welche Dynamik bringt diese Organisationsform mit sich? Dadurch, dass wir viele sehr engagierte und kompetente Leute im Kernkomitee haben, geht die Organisation relativ rasch vonstatten. Es sind immer unterschiedliche Kompetenzen gefragt – diesmal beispielsweise jene eines Zimmermanns für die Brücke. So ergänzen sich die Rollen zwi- «Wir erhalten sehr viel Zuspruch.» «Nous recevons de nombreux encouragements.» © Dominic Brügger

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