29 ENSEMBLE 2022 /65 —– Fokus schen Angestellten und Freiwilligen; das macht grosse Freude. Die Aktion fand 2019 zum ersten Mal statt. Damals gedachte man 35 579 Menschen. Mittlerweile sind es bereits über 44 000. Warum diese Zunahme? Vor fünf, sechs Jahren gab es noch staatlich finanzierte Seenotrettungsprogramme. Diese sind heute allesamt eingestellt. Es kursieren einzig noch Schiffe, die von der Zivilgesellschaft betrieben werden – oftmals mitfinanziert durch Kirchen. Aber diese Schiffe werden von mehreren Regierungen in ihrer Arbeit behindert, beispielsweise indem die Schiffe mit fadenscheinigen Argumenten am Auslaufen aus dem Hafen gehindert werden. Wer mit einem maroden Schiff in See sticht, kann also kaum mehr auf Rettung hoffen? So ist es, leider. Es gibt kritische Stimmen, die sagen, erst die Seenotrettung locke die Menschen aufs Meer und somit in die Gefahr. Dieses Argument hören wir immer wieder. Aber es gibt verschiedene Studien von unterschiedlichen Universitäten, die alle klar aufzeigen: Eine gefährliche Überfahrt übers Meer hält die Menschen nicht von der Flucht ab. Es sind die Situationen, in denen die Menschen sich befinden, die sie aufs Meer treiben – egal, ob es dort nun Rettungsschiffe gibt oder nicht. Können Sie ein Beispiel geben? In Libyen etwa werden Menschen oftmals in Internierungslagern festgehalten. Die Zustände sind verheerend: schlechte sanitäre Einrichtungen, enge Platzverhältnisse, ungenügend zu essen, zudem werden Menschen gefoltert, sexuell missbraucht oder müssen Zwangsarbeit leisten. Wer kann, verlässt das Land. Auch wenn die Überfahrt übers Mittelmeer tödlich sein kann. Welche Rolle spielt die Europäische Union in der ganzen Sache? Eine unrühmliche. Sie überwacht beispielsweise mit ihrer Grenzschutzagentur Frontex das Mittelmeer und meldet Schiffe der sogenannten libyschen Küstenwache. Diese schleppt die Schiffe dann wieder zurück in ihr Land und die Menschen werden wieder interniert. Solche sogenannten Pullbacks verstossen gegen internationales Recht. Wie sieht es denn aus mit den einzelnen Mitgliedstaaten der EU? Auch diese verstossen immer wieder gegen die Menschenrechte. Auf der Liste mit den Namen ist beispielsweise ein Fall dokumentiert, bei dem die griechische Küstenwache absichtlich ein Schiff gerammt hat, das im Anschluss gesunken ist. Kein einziges Besatzungsmitglied wurde bis heute dafür verurteilt. Der Kern des internationalen Flüchtlingsschutzes besagt, dass jeder Mensch das Recht hat, einen Staat um Schutz zu bitten. Mit dieser Praxis wird das Flüchtlingsrecht massiv missachtet. Sprechen wir da von einer jüngeren Tendenz oder einer langanhaltenden Praxis? Europa baut seine Festung seit ein paar Jahren mehr und mehr aus. Wenn die EU sich nicht mehr an die eigenen Gesetze hält, sich nicht mehr an den christlichen Werten orientiert und die Schwächsten nicht mehr schützt, können wir die Idee eines christlichen Abendlandes beerdigen. Die Entwicklung ist alarmierend. Was kann und soll die Kirche in dieser Thematik tun? Sie soll die Stimme erheben und sich als Anwältin für die Schwächsten einsetzen. Aus christlicher Sicht sind alle Menschen gleich. Bald schon stimmen wir darüber ab, ob die Schweiz ihre finanzielle Beteiligung an der Grenzschutzagentur Frontex ausbauen soll. Hier sollte sich die Kirche in die Debatte einbringen. Eine Kirche, die sich in die Politik einbringt, ist für viele ein heisses Eisen … Ich gehe davon aus, dass viele Menschen an der kirchlichen Basis nicht damit einverstanden sind, Frontex mit massiv mehr Geld als bisher auszustatten, wenn sich die Agentur nicht an die Menschenrechte hält. Wir haben in den Kirchen zudem eine lebhafte Diskussionskultur und reglementierte Entscheidungswege. Kommt eine kirchliche Positionierung zustande, ist sie also immer demokratisch legitimiert. Für mich persönlich ist klar: Als Kirche müssen wir die europäischen Staaten und die Schweizer Regierung daran erinnern, dass sie sich an die Gesetze halten und die Menschenrechte ausnahmslos zu achten haben. Sich beteiligen Die Kirchgemeinden werden eingeladen, sich an der Aktion «Beim Namen nennen» zu beteiligen. Interessierte können im ganzen Mai dezentral in ihren Kirchgemeinden kleine Stoffflaggen beschriften. Weitere Informationen: www.beimnamennennen.ch Bern
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