6 Doss i er —– ENSEMBLE 2022 /65 ist eine direkte Ableitung aus Artikel 100, mit welchem der Abschnitt über «Aufbau und Leitung der Gemeinde» beginnt: «Die Kirchgemeinde steht unter dem Wort Gottes.» Wir stehen nun vor der Frage, wie diese Leitung sich konkret abspielt. Die Antwort: Christus leitet seine Kirche durch sein Wort. Weil die Auslegung und die Aneignung der Bibel der Ort ist, wo Glaube, Liebe und Hoffnung entstehen, ist es auch der Ort, wo Kirche begründet, aufgebaut und erneuert wird. Und damit der Ort, wo geistliche Leitung der Kirche immer wieder ihren Anfang nimmt. Deshalb kann Gemeindeleitung nur «im Hören auf das Wort Gottes» stattfinden. Also begleitet von der ständigen Frage, was Christus uns durch die Texte der Bibel für unsere heutige Situation, für die heutigen Herausforderungen der Kirche, sagen will. Man kann es auch so ausdrücken: Geistliche Leitung ist «hörende» Leitung. Für die Reformatoren war es selbstverständlich, dass das allgemeine Priestertum das Verkündigungsamt nicht relativiert oder aufhebt. Nach Martin Luthers Verständnis sind Priestertum aller Gläubigen und das Verkündigungsamt einander zugeordnet. Das Priestertum aller Gläubigen braucht das Verkündigungsamt, es ist darauf angewiesen. Das Pfarramt hat die Aufgabe, die Gemeinde dazu zu befähigen, ihre Leitungsaufgabe kompetent wahrzunehmen. Die Berner Kirchenordnung ist auch in dieser Angelegenheit klar: «Das Pfarramt ist verantwortlich für die Verkündigung des Evangeliums. In dieser geistlichen Aufgabe hat es Teil an der Leitung der Gemeinde.» Mit diesen beiden Sätzen wird sowohl die Bedeutung als auch die Begrenzung der Rolle des Verkündigungsamtes bei der Leitung der Gemeinde ausgesprochen. Das Pfarramt hat eine enorm grosse Rolle bei dieser Leitung. Denn wenn Gemeindeleitung aus dem Hören auf das Wort Gottes erfolgt, dann haben Pfarrpersonen die Aufgabe, dass die Gemeinde und die für die Leitung Verantwortlichen dieses Wort immer wieder zu hören bekommen. Auf diesen Dienst ist die Mitwirkung des Pfarramtes aber auch begrenzt. Diese geistliche Leitungsverantwortung des Verkündigungsamtes schlägt sich darin nieder, dass die theologische Stimme der Pfarrschaft in allen Fragen, mit denen sich eine Gemeindeleitung befassen muss, zu hören ist. Also auch beim Budget oder bei der Sanierung des Daches des Kirchgemeindehauses. Die bernische Kirchenordnung sagt dazu: Das Pfarramt berät «den Kirchgemeinderat, die Ämter und die weiteren Dienste in theologischen Fragen». Und umgekehrt gilt für den Kirchgemeinderat, dass er sich «vor seinen Entscheidungen durch das Pfarramt theologisch beraten» lässt. Gegenseitige «Wertschätzung» Es lässt sich an der Kirche ablesen, ob sie von Jesus Christus durch den Heiligen Geist geleitet ist. Es lässt sich daran ablesen, dass die Gemeinde als Ganze dafür verantwortlich ist. Daran, dass diese Leitung ernsthaft Leitung aus dem Hören auf das Wort Gottes sein will. Und daran, dass das Verkündigungsamt in rechter Weise beteiligt wird. Und schliesslich daran, dass man ernstlich damit rechnet, Bibel und Theologie hätten in Sachen Leitung in der Kirche Zentrales zu sagen. Geistliche Leitung wird sich durch gegenseitige Wertschätzung auszeichnen. Geistliche Leitung der Kirche wird sich auch darin zeigen, dass das Entscheiden und Handeln der Verantwortlichen von kritischer Selbstprüfung begleitet ist. Christenmenschen wissen darum, dass sie begrenzte und fehlbare Wesen sind. Sie wissen auch darum, dass Macht versuchlich ist, sogar in der Kirche. Und sie wissen deshalb darum, dass der Geist Christi auch so wirkt, dass er uns unsere Grenzen, unsere Irrtümer und unsere Korruption durch die Versuchungen der Macht bewusst macht. Als Christenmenschen wissen sie auch darum, dass Selbstkritik und Selbstkorrektur kein Zeichen der Schwäche ist. Sondern ein Zeichen dafür, dass Christus seine Kirche nicht sich selbst überlässt. Sie durch seinen Geist immer neu zu besserer Einsicht führt. (Abgeleitet und redaktionell bearbeitet aus dem Referat an der Tagung «‹Leit uns in allen Dingen›. Geistlich leiten – theologische Klärungsversuche im Dialog mit sozialwissenschaftlichen Führungstheorien», 29./30. Januar 2018, Bürenpark Bern) Wer ist das, der oder die in der Kirche leitende Verantwortung trägt? Qui est celui ou celle qui assume des responsabilités dirigeantes au sein de l’Eglise? © KEYSTONE / WESTEND61 / Fotofeeling
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=