13 ENSEMBLE 2022 /66 —– Doss i er Line Dépraz D V I E L F A L T I N D I E G O T T E S D I E N S T E B R I N G E N Line Dépraz ist Pfarrerin in der Kathedrale Lausanne. Sie wagt es, ungewöhnliche Gottesdienste zu gestalten – mit Erfolg, sind die Anlässe doch sehr gut besucht. Die Pfarrerin gibt Einblick in ihre Vision von der Feier. Welche Stellung nimmt für Sie der Gottesdienst ein? Der Gottesdienst ist zentral wichtig. Er ist und bleibt gleichsam die Lunge unseres kirchlichen Lebens, aber auch der Gemeinde. In einer individualistisch geprägten Gesellschaft wie der unsrigen behält die gemeinschaftliche Versammlung ihre wichtige Stellung. Es ist ein Moment, in dem man auf das Wort trifft, das uns aus dem Zentrum rückt. Die Auseinandersetzung mit der biblischen Erzählung ist spannend. Ich denke, dass ein Text immer neue Deutungen liefert und nie zu Ende interpretiert ist. Der Gottesdienst ist eine der wichtigsten Aufgaben meines Amtes. Seit meinem Antritt 2019 habe ich die traditionelle Form des Gottesdiensts hinterfragt und nach «Alternativen» dazu gesucht. Ich habe zu diesem Zweck mehrmals Laien eingeladen. Muss der Gottesdienst erneuert werden? In der Kirche bekunden wir Schwierigkeiten, die Leute anzusprechen. Wir bleiben gefangen in einer Insider-Sprache voller biblischer Anspielungen, denen nur noch Kenner folgen können. In der Kathedrale empfangen wir in erster Linie ein «Laufpublikum». Aus diesem Grund haben wir uns daran gemacht, die Liturgie neu zu gestalten. Wir haben Liturgien gedruckt und überreichen den Menschen ein vollständiges Büchlein, in dem die Texte gelesen werden können und man sich mit ihnen vertraut machen kann. Wir versuchen, eine einfache, inklusive Sprache mit alltäglichen Worten zu verwenden. Wenn ein Pfarrer predigt, verwendet er die männliche Form, und wenn eine Pfarrerin predigt, verwendet sie die weibliche Form. Dasselbe gilt für die Teilnehmenden. Wir nutzen übrigens viele Texte in Dialogform: Als Person, die durch den Gottesdienst führt, sage ich einen Teil des Textes, und die Gemeinde antwortet mit einem weiteren Teil. Das ermöglicht eine aktivere Beteiligung, der Gottesdienst wird dadurch zu einer Angelegenheit des gesamten Volks Gottes und nicht nur der Amtsträger. Und das funktioniert gut. Die Leute sind dankbar. Organisieren Sie auch spezielle Gottesdienste? Aus Anlass der Olympischen Jugendspiele 2020 haben wir zwei Politiker – einen Kantonspolitiker und einen Gemeindepolitiker; einer katholisch, der andere protestantisch; einer bürgerlich, der andere links – eingeladen zu predigen. An Weihnachten desselben Jahres haben wir einen «silent cult» organisiert, bei dem das Publikum zu Kurzbesuchen geladen war, was es ermöglichte, die behördlichen Gesundheitsvorgaben einzuhalten. Vergangene Weihnacht habe ich eine dialogische Predigt mit dem Philosophen Alexandre Jollien durchgeführt. Dieses Jahr haben wir in der Passionszeit Pfarrerinnen eingeladen, Predigten abzuhalten zu den Treffen zwischen Jesus und den Frauen im Johannesevangelium. Die Predigt war die Weiterführung einer musikalischen Kreation des Sängers Stéphane Blok und des Musikers Théo Schmitt, die sich der Passion angenommen und sie neu interpretiert hatten. Für den Anlass haben wir zudem im Chor der Kathedrale einen Garten mit 50 Olivenbäumen eingerichtet. Am Anlass waren mehrere Künstlerinnen und Künstler beteiligt. Ist diese Art von Gottesdienst die Lösung, um die Kirchen wieder zu füllen? Man kann nicht jeden Sonntag einen Spezialgottesdienst organisieren, aber es ergeben sich manchmal Gelegenheiten. Wir müssen lernen, die Gottesdienste vielfältig zu gestalten. Der Gottesdienst behält seinen Sinn, solange sich Menschen zu und wegen ihm einfinden. Wenn wir es nicht schaffen, Menschen anzuziehen, weist das auf ein grösseres Problem in der Kirche hin. Ich bin überzeugt, dass die Kirchen in der heutigen Gesellschaft viele wichtige Dinge zu sagen und zu vermitteln haben. Wir müssen aber eine gute Art zu kommunizieren wagen und finden. © zVg
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