ENSEMBLE Nr. / N° 67 - September / Septembre 2022

15 ENSEMBLE 2022 /67 —– Doss i er Welches ist die spezifische Rolle der Kirchen? Kirchen stellten Gebäude und Sonntagsschulräume für die Opfer zur Verfügung. Schnell wurde klar, dass dieser Krieg ein patriotischer bzw. vaterländischer Krieg ist. Alle wollen auf ihre Art das Land verteidigen. Die Mehrheit der Kirchen in der Ukraine verurteilte den Krieg. Priester unterstützten die Menschen in spirituellen Belangen. Dies war wichtig einerseits für reguläre Gemeindemitglieder, andererseits für Flüchtlinge und Binnenvertriebene. In den ersten Kriegswochen wurden sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft, geistliche und psychologische Hilfe in Gemeinden zu leisten. Haben sich die Gemeinden seit Kriegsbeginn durch die Flucht von Mitgliedern verändert? Christen unterschiedlicher Konfessionen und Gemeinschaften fühlten sich bildlich gesprochen im selben Boot. Vielen wurde die gemeinsame Verantwortung für das Land und die Menschen bewusst. Wie geht es den Gläubigen und den Geistlichen sieben Monate nach Beginn des Krieges und im Hinblick auf einen Zermürbungskrieg? Psychologisch gewöhnen sich die Menschen an den Krieg. Sie schauen nicht mehr so häufig die Nachrichten. Sie gewöhnen sich an Raketenbeschuss und Luftangriffe. Alle machen einfach, was sie können. Wir von der Kirche arbeiten in kleinen, aber stetigen Schritten. Schrille Aktionen sind nicht angebracht. Jetzt ist es Zeit für den Dienst an den Menschen. Die Kirche ist aufgerufen, Menschen in verschiedenen schwierigen Lebenslagen zu dienen. Die besondere Hilfe der Kirche heute sind Gebet und Trost für die Opfer. Wie wirkt sich dieser Bruderkrieg auf die Gottesdienstfeier aus? Die Abläufe der Gottesdienste haben sich nicht wesentlich verändert. In Gemeinden ausserhalb des Kriegsgebiets werden Gottesdienste wie gewohnt durchgeführt. Wo Kirchengebäude ganz oder teilweise zerstört sind, finden keine Gottesdienste statt. Aber in den funktionierenden Gemeinden versammeln sich die Leute für Gottesdienste. Ich kenne viele Beispiele, wo es in Kirchen täglich Gebete und Akathisten2 gibt, was vor dem Krieg nicht der Fall war. Welche Auswirkungen hat die Trennung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche vom Moskauer Patriarchat? Welches sind die Herausforderungen und die Chancen? Die Entscheidungen des Konzils der Ukrainisch-­ Orthodoxen Kirche vom 27. Mai beruhen auf der pastoralen Notwendigkeit eines wirkungsvollen Dienstes für unser Volk unter neuen, aussergewöhnlichen Umständen. Diese Entscheidungen zeigten die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit unserer Kirche. Sie wurden unabhängig und ohne Fremdeinfluss zumWohle der Kirche in der Ukraine und zumWohle der orthodoxen Ukrainerinnen und Ukrainer, die ausserhalb des Landes leben, getroffen. Derzeit entwickelt sich die Mission im Ausland aktiv weiter. Unsere Kirche wurde nicht einfach nur unabhängiger, sie wurde sogar ganz unabhängig. In den letzten Monaten haben wir unsere seelsorgerische Präsenz im Ausland aktiv ausgebaut. In vielen Ländern Europas werden Gemeinden eröffnet. De facto sind wir heute eine autokephale, von den Gemeinschaftsinteressen geleitete Kirche, deren Mitglieder oft zur Flucht gezwungen waren. Dank dem Entscheid des Konzils haben wir jetzt mehr Eigenständigkeit in interorthodoxen und interchristlichen Beziehungen. Wir können unseren Seelsorgeauftrag wirkungsvoll und den Herausforderungen der Zeit entsprechend ausüben. Was erwarten die ukrainischen Kirchen von den Kirchen der Welt? Wir erwarten Unterstützung im Gebet, Solidarität und humanitäre Hilfe. Wir haben aber auch schon sehr viel bekommen. Es ist uns wichtig, dass die Mehrheit der Kirchen der Welt den gegenwärtigen Krieg verurteilt hat. Denn das heisst, dass ihre Meinung mit unserer Meinung übereinstimmt. 2 Ein Akathistos ist ein Hymnus in der Ostkirche, der der Dreieinigkeit, einem Heiligen oder einem Festgeheimnis des Kirchenjahrs gewidmet ist.

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