23 ENSEMBLE 2022 /67 —– Doss i er UKRAINISCHE FLÜCHTLINGE Das Abenteuer der Aufnahme In einem Anflug von Grosszügigkeit haben sie ukrainische Flüchtlinge empfangen. Eine völlig neue und facettenreiche menschliche Erfahrung, die aber auch herausfordernd ist. Wir berichten von den Erlebnissen. Par Nathalie Ogi Die Kickboards lehnen in Reih und Glied an der Fassade. Geschützt vor der Sonne spielen die Kinder drinnen. Seit diesem Frühling sind im Haus der Missionsabteilung 19 Ukrainerinnen und Ukrainer untergebracht. Möglich gemacht haben dieses Projekt der Pfarrer Florian Bille, zwei Kirchgemeinderätinnen, die Gemeinde und Freiwillige aus dem Dorf im Waadtländer Jura. «Es läuft gut. Das Zusammenleben von Familien ist zwar nicht immer einfach, aber alle tun ihr Möglichstes. Ich war beeindruckt davon, wie die Einwohnerinnen und Einwohner diese Menschen aufgenommen haben, und von der Grosszügigkeit der Bauern und Gewerbetreibenden, die lokale Produkte zur Verfügung stellen», erzählt Catherine Martin-Mehr. Zusammen mit der Gemeindevertreterin Isabelle Rubin engagiert sie sich für ihre Schutzbefohlenen. Die administrativen Auflagen sind erfüllt, die Französischsprachkurse laufen und die Kinder sind eingeschult – nun stellen sich Fragen nach der Zukunft. Viele Flüchtlinge äussern den Wunsch, wieder nach Hause zurückzukehren. Die KirchgemeinD derätin, die früher im humanitären Bereich tätig war, ist beunruhigt wegen der Traumas, die auftreten könnten. Eine junge erwachsene Frau, deren Eltern in der Ukraine leben, macht sich grosse Sorgen. Es werden deshalb zwei Ukrainisch sprechende Psychologen aufgeboten. Während man auf sie wartet, bringt Catherine Martin einer anderen Familie, die im Dorf untergebracht ist, Brot vorbei. Der Pfarrer der Kirchgemeinde Gimel-Longirod hat einen grossen Anteil am Aufbau des Solidaritätsnetzwerks. Er war es, der die Aufnahme von siebzig Ukrainerinnen und Ukrainern in der Region ermöglicht hat. Er selbst beherbergt seit zwei Monaten vier Flüchtlinge. «Für uns ist es einfach: Die Eltern sprechen Englisch und die Familie wohnt in einer separaten Wohnung», führt Florian Bille aus. Drei bis vier Mal pro Woche nehmen wir die Mahlzeiten gemeinsam ein. Wenn einer ihrer Gäste deprimiert ist, bieten der Pfarrer und seine Gattin moralische Unterstützung an. Sie helfen auch bei den oft komplexen administrativen Aufgaben, etwa im Hinblick auf die Erlangung des Ausweis S, der vor kurzem ausgestellt wurde. Eine grosse WG Schockiert von den Bildern aus dem Krieg haben auch Sarah Vermot und ihr Freund reagiert und zwei Ukrainerinnen bei sich aufgenommen, eine Mutter und ihre 12-jährige Tochter. «Unsere Gäste sind Mitte März aus Kiew zu uns gekommen. Seither bewohnen sie ein Zimmer und mein ehemaliges Büro», erzählt die junge Lehrerin, die in einer Aufnahmeklasse unterrichtet. In der Dreizimmerwohnung in Gimel ist das Badezimmer der gefragteste Raum. «Ich habe schon in einer WG gewohnt und weiss von daher, dass man sich durchsetzen muss, wenn man am Morgen eine Dusche nehmen will.» Während der schönen Sommertage ist das Zusammenwohnen einfacher geworden. Emotional, logistisch und administrativ war der erste Monat sicher der intensivste. Das junge Paar verbrachte viele Stunden mit dem Ausfüllen von Dokumenten für den Erhalt der Nothilfe. Zudemmusste es einen ganzen Tag im Bundesasylzentrum Boudry ausharren, bis die Gäste endlich registriert werden konnten. Nach ersten Anlaufschwierigkeiten wurde mit der Zeit auch die Kommunikation einfacher. Zu Beginn musste sich das Paar an ungewohnte Verhaltensweisen gewöhnen. Etwa damals, als die Gäste fünf aus Lebensmittelspenden an das Bundeszentrum stammende Salate nach Hause brachten, mit denen sie ihre Dankbarkeit gegenüber den Gastgebern ausdrücken wollten. Das Paar musste ihnen erklären, dass man keine Lebensmittel verschwenden wolle und dass die Salate für die Flüchtlinge im Zentrum gedacht seien. Nach einigen Höhen und Tiefen empfindet das Paar nun aber die gemeinsame Zeit als schöne Erfahrung. © Nathalie Ogi
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