ENSEMBLE Nr. / N° 67 - September / Septembre 2022

5 ENSEMBLE 2022 /67 —– Doss i er Christine Schliesser: «Wenn ich aber sehe, dass mein Nachbar unterdrückt wird und gefährdet ist, dann habe ich die christliche Pflicht einzugreifen, gegebenenfalls auch mit Gewalt.» Christine Schliesser: «Mais si je vois que mon voisin est opprimé et en danger, j’ai le devoir chrétien d’intervenir, même par la force si nécessaire.» internationale Gemeinschaft tätig wird und den Konflikt beendet. Gibt es also Kriege, die gerecht sind? D.B.: Für mich gibt es keine gerechten oder gar heiligen Kriege. Kriege sind immer ein Übel und ein Ausdruck des Versagens der Menschen im Bemühen um den Frieden. Es darf heute nur noch militärisch organisierte Gewaltanwendung geben, wenn sie dem Ziel dient, einen rechtmässigen Frieden (wieder) herzustellen. Dieser beinhaltet in Anlehnung an das «zivilisatorische Hexagon» von Dieter Senghaas ein staatliches Gewaltmonopol, eine Kultur der konstruktiven, friedlichen Konfliktbearbeitung, eine minimale soziale Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit, politische Teilhabe sowie das Erkennen der gegenseitigen Abhängigkeiten und somit eine völkerrechtliche Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen. C.S.: Ein Krieg wird nie gerecht sein können. Auch der Ukraine-Krieg ist kein gerechter Krieg. Für mich ist Dietrich Bonhoeffer hilfreich. Er schreibt: «Es gibt Situationen, da gibt es nicht gut oder böse, schwarz oder weiss, sondern nur Schattierungen von Grau.» Wir müssen Entscheidungen mitunter im Zwielicht treffen. Das bedeutet, dass wir um des Nächsten willen Schuld auf uns laden. Ich glaube, auch im Ukraine-Krieg kommt niemand mit einer weissen Weste heraus. Sondern wir alle werden schuldig werden, egal wie wir uns verhalten. Dies zeigt sich bei Waffenlieferungen. Wie sollen die Kirchen darauf reagieren? C.S.: Es ist nicht Aufgabe der Kirchen, Waffen zu liefern. Zugleich zeigt sich hier ein Dilemma für die theologische Friedensethik. Wenn unsere Länder Waffen liefern, werden wir schuldig. Denn damit werden Menschen getötet. Aber wenn wir uns verweigern und tatenlos zuschauen, wie ein Volk vor unseren Augen abgeschlachtet wird, machen wir uns ebenfalls schuldig. Diese Spannung müssen wir in der christlichen Friedensethik benennen und nicht versuchen, sie zu ignorieren oder schönzureden. Dietrich Bonhoeffer schreibt: «Jeder verantwortlich Handelnde wird schuldig.» Was sollen die Kirchen angesichts des Krieges in der Ukraine tun? C.S.: Der Ethikbeirat der Gemeinschaft der Evangelischen Kirchen in Europa (GEKE), dem ich angehöre, hat eine Stellungnahme zum UkraineKrieg verfasst. Darin wird ein dreifaches Vorgehen vorgeschlagen: (1) Als Kirchen beten wir (1 Thess 5,17). Wir bringen so unsere Klage zum Ausdruck und geben Zeugnis von der Kraft und der Verheissung des Gebets. Ich habe mit Menschen in der Ukraine gesprochen und gefragt, was wir als einzelne Christinnen und Christen sowie als Kirchen in der Schweiz für sie und die Kirchen vor Ort tun können. Und alle sagten, an erster Stelle steht das Gebet. (2) Als Kirchen erheben wir unsere Stimmen. Wir sind dazu aufgerufen, Ungerechtigkeit und Leid entgegenzutreten und unsere Stimme für die zu erheben, die sprachlos und ohne Stimme sind (Sprüche 31,8). Dazu gehört auch das Engagement für Versöhnung. (3) Als Kirchen helfen wir (Mt 25,40). Die Kirchen in Europa haben vielfältige Wege gefunden, praktische Hilfe zu leisten: im humanitären Bereich, durch logistische oder finanzielle Unterstützung oder die Aufnahme von

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