1 1 ENSEMBLE 2022 /68 —– Doss i er oft wird das Handy sogar zur gegenseitigen Kontrolle eingesetzt. Auch in der Erziehung bedeutet dieses Thema ein grosses Konfliktpotenzial sowohl zwischen den Eltern wie auch zwischen Eltern und Kindern. Es kommt zum Kampf ums Ausschalten, Fragen zur Nutzung der Geräte führen sehr oft zum Streit. Weiter habe ich den Eindruck, dass ganz allgemein der gesellschaftliche Leistungsdruck zugenommen hat, der die Menschen erschöpft und die Liebesbeziehungen erschwert. Die Frauen und Männer erleben diesen Druck nicht nur in der Arbeitswelt, sondern in allen Lebensbereichen. Und oft haben sie auch sehr hohe Ansprüche an sich selber: Elternschaft plus häufige Fort- und Ausbildungen plus hochprozentige Arbeitsstellen plus (leistungsbezogene) Freizeitaktivitäten, und alles gleichzeitig. Diesem Druck sind auch die Kinder immer mehr ausgesetzt, gutgemeinte Förderung wird zu Stress. Die Angebote von Psychologen und Psychiatrie sind überlastet, vor allem jene für Jugendliche. Hat dies Konsequenzen für Ihre Beratungsstelle? Nein, nicht direkt, da es für Jugendliche passendere Anlaufstellen gibt. Wir arbeiten eher mit den Eltern, deren Kinder es schwer haben. Wichtig scheint mir aber die Grundsatzfrage: Was ist los mit unserer Gesellschaft, dass Kinder und Jugendliche vermehrt Therapie brauchen? Was läuft falsch? Und da hat Corona wie eine Lupe gewirkt, hat deutlich gemacht, wo die Schwachstellen in verschiedenen Systemen sind, was wichtig ist und was Menschen brauchen. Offensichtlich hat es viel weitreichendere Folgen als viele Fachleute angenommen haben, wenn soziale Kontakte erschwert und «reale» Beziehungen verunmöglicht werden. Wie können Spannungen in Beziehungen auf konstruktive Weise angegangen werden? Da möchte ich zuerst eine allgemeine Bemerkung vorausschicken: Spannungen in Beziehungen können und sollen nicht vermieden werden; es ist kein schlechtes Zeichen, wenn Spannungen auftreten, sondern ein Hinweis, dass etwas nicht (mehr) stimmig ist. Dann sind wir aufgefordert, näher hinzuschauen und dies zu thematisieren. Und nur so ist Wachstum möglich, Wachstum geschieht immer über Krisen. Spannungen äussern sich ja meistens in einem unangenehmen Gefühl – daher gehört zu einem sinnvollen Umgang, sich dieses einzugestehen und es dann anzusprechen. Wichtig ist herauszufinden, was hinter dem eigentlichen Auslöser steckt: Enttäuschung, unausgesprochene Ängste oder Erwartungen? Dieser vertiefte Dialog führt zum Verständnis der eigenen Gefühle und des eigenen Verhaltens, aber auch derjenigen der Partnerin oder des Partners. Der Austausch über die unangenehmen Gefühle, dieses gegenseitige Verstehen-Wollen, bildet die Basis für eine konstruktive Auseinandersetzung. Was empfehlen Sie den Menschen, um sich und ihrem Umfeld – auch für kommende Krisen – Sorge zu tragen? Einiges ergibt sich bereits aus den vorherigen Antworten. Wir wissen, dass Bedrohung entweder Flucht (ausweichen, ablenken), Kampf (aktiv werden, sich wehren) oder Erstarrung (Ohnmacht) auslösen kann und dass Menschen auf gleiche Situationen unterschiedlich reagieren. Ohnmacht und Erstarrung sind für Menschen sehr unangenehm und auf die Dauer auch schädlich. Kommen dann noch Angst und soziale Isolation dazu, sind sie sogar richtiggehend krankmachend. Sich Sorge zu tragen könnte also heissen, die eigenen Ressourcen zu kennen und zu stärken, lernen, sich am Kleinen zu freuen, dankbar zu sein. Sich Gutes tun, nicht nur für körperliche, sondern auch für seelische und geistige Nahrung sorgen, sich vernetzen – d. h., Beziehungen leben und pflegen, sich und andere lieben. Alles, was aus der Angst und der Ohnmacht hinausführt, auch wenn es nur für Momente ist, wirkt stärkend. So kann die Zuversicht wachsen, dass auch nächste Krisen zu bewältigen sind. * Beauftragte Ehe, Partnerschaft, Familie Die kirchlichen Beratungsstellen «Ehe – Partnerschaft – Familie» (EPF) an neun verschiedenen Standorten unterstützen Einzelpersonen, Paare und Familien bei Beziehungs- und Familienproblemen. www.berner-eheberatung.ch
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