19 ENSEMBLE 2022 /68 —– Doss i er D DIAKONIE Angespannte Lage in der Westschweiz In dieser schwierigen Zeit ist die Armut in der Westschweiz auf beunruhigende Weise auf dem Vormarsch. Die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine sind zu spüren, die Nachfrage nach Lebensmitteln steigt. Die Sozialdiakonie hat viel zu tun. Par Nathalie Ogi Gewisse Regionen sind stärker betroffen als andere. Hilfsorganisationen im Wallis etwa sind seit der Ankunft der ukrainischen Flüchtlinge, die zwischen 50 und 70 Prozent der Hilfsgesuche ausmachen, mit erheblich mehr Anfragen konfrontiert, erläutert Mario Giacomino, Synodalrat und Diakon der Kirchgemeinde Monthey. Den Walliser beunruhigen die Inflation und die Ankunft von neuen ukrainischen Flüchtlingen, die vor dem Krieg und der Kälte fliehen. «Wir gelangen sowohl bei den Waren als auch bei den Freiwilligen an die Kapazitätsgrenzen» – mit dem Risiko, dass angesichts der Grösse der Aufgabe der gute Wille schwindet. In der Region Lausanne, wo die Nachfrage nach Lebensmitteln ebenfalls im Steigen begriffen ist, ist die Lage vergleichbar. «Die Personen, die wir am Nachmittag in unseren Strukturen empfangen, haben oft Probleme, ihre Rechnungen zu bezahlen oder Essen zu beschaffen», hält Eric Bianchi, Strassendiakon in Lausanne, fest. Caritas wartet mit erschreckenden Zahlen auf, es wurden über 50 Prozent mehr Waren verteilt. «2019 haben wir 548 Tonnen Nahrungsmittel verteilt, 2021 sind wir bei 750 Tonnen angelangt», sagt Jean Kaiser, Leiter der Lebensmittelverteilzentrale der Region Lausanne. Auch hier gehen zwei Drittel der verteilten Lebensmittel an die Ukrainerinnen und Ukrainer, die oft aus anderen Regionen des Kantons anreisen, um Lebensmittel zu erhalten. Nicht selten kommen sie vergeblich. «Wir sehen viele, die während drei Stunden anstehen und dann doch mit leeren Händen nach Hause gehen.» «Krieg der Armen» Weil nicht genug Lebensmittel zur Verfügung stehen, nehmen die Spannungen unter den Bezügerinnen und Bezügern in Lausanne wie auch im Wallis zu. Es entwickelt sich eine Art «Krieg der Armen», wie man das zuvor noch nie erlebt hat. In den grossen städtischen Zentren ist die Armut gut sichtbar, auf dem Land ist sie versteckter. In den ländlichen Gebieten des Kantons Neuenburg spielen die Kirchgemeinden in Bezug auf die Sozialdiakonie eine wichtigere Rolle als in den Städten, in denen diese Aufgabe an bestimmte Einrichtungen gebunden ist, erklärt der Diakon JeanMarc Leresche, der die Strassenseelsorge in Neuenburg leitet. Die ukrainischen Flüchtlinge, die in überfüllten Aufnahmezentren untergebracht sind, begeben sich selten in die Stadt. Die Neuenburger Empfangsstruktur «Lanterne» ist nicht überlastet. «Aber wir verfolgen die Lage aufmerksam, damit wir uns gegebenenfalls anpassen können.» Caritas bereitet sich auf die kommenden Monate vor, indem sie vorsorglich nach neuen Versorgungsmöglichkeiten Ausschau hält und mit den Behörden neue Subventionen aushandelt. Die Unterstützung durch die Kirchen und ihre Netzwerke ist wertvoll. Die meisten sind voll ausgelastet, stellen Freiwillige an und gleisen Verteilung und Logistik auf. «Sie bilden das letzte Sicherheitsnetz und bieten die letzte Hilfe», bemerkt Jean Kaiser. Angesichts der Energiekrise dürfte der Winter schwierig werden. Die Preiserhöhungen für Heizung und Strom könnten die Haushalte noch stärker in Bedrängnis bringen. «Die Kirche muss sich noch mehr um Personen in Notlagen kümmern. In der Covidkrise hat sie gezeigt, dass sie schnell, reaktiv und dazu in der Lage ist, eine Solidaritätsbewegung auf die Beine zu stellen», hält Daniel Chèvre fest, Diakonieausbildner in der Westschweiz. In seinen Augen kann die Kirche diese einigende Rolle übernehmen. «Die Kirche hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, eine Solidaritätsbewegung auf die Beine zu stellen.» «L’Eglise a montré qu’elle était capable de lancer un mouvement de solidarité.» © Mickael Franci / Cordaid
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