26 Fokus —– ENSEMBLE 2022 /68 ebenfalls im Amt. Denn die Arbeit geht den Engagierten nicht aus. Wöchentlich reisen am Sonntag ehemalige Bewohner der Unterkunft an, um gemeinsam Fussball zu spielen. Und monatlich treffen sich gegen 50 Menschen im Freitagstreff, um sich auszutauschen und miteinander zu kochen und zu essen; eine Kontaktbörse par excellence. Hinzu kamen allerdings mit der Zeit noch weitere Tätigkeitsfelder: Die Integrationsarbeit, Wohnungssuche und -einrichtung, die Arbeitsintegration – all dies wurde immer wichtiger. Dazu kam aber insbesondere auch die Unterstützung von abgewiesenen Asylsuchenden. Denn nicht nur das Know-how zum Asylwesen wuchs bei den Engagierten; auch die Beziehungen zu den Menschen wurden tiefer. Selbstverständlich also, dass die Vereinsmitglieder den Menschen auch dann zur Seite standen, wenn der Staat ihr Asylgesuch abwies – insbesondere dann, wenn die Betroffenen entgegen der Behördenmeinung nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten oder wollten. Die restriktive Behördenpraxis betrifft etwa Menschen, die vor der Diktatur Eritreas oder dem Bürgerkrieg Äthiopiens geflohen sind oder die sich als konvertierte Christen fürchten, in den Iran zurückzukehren, obschon die Behörden dies als «zumutbar» erachten. Die Begegnung mit diesen Menschen habe Jürg Schneider völlig verändert, sagt sein ideeller Mitstreiter, Pfarrer Daniel Winkler aus Riggisberg. «Das ist eine Entwicklung, die viele Menschen machen: Sobald sie Geflüchteten in Real gegenüberstehen, verändert sich ihre Wahrnehmung. Sie sind dann nicht mehr eine anonyme, mit Vorurteilen behaftete Gruppe von gesichtslosen Wesen, über die man spricht wie über eine neue, fremdartige Krankheit. Nein, sie werden durch die Begegnung zu einem Gegenüber mit einem Gesicht, zu einem Menschen mit Sorgen und Freuden, mit Hoffnungen und Ängsten.» Empörung als treibende Kraft Jürg Schneider ist massgeblich daran beteiligt, dass die Schicksale der Betroffenen und der Begriff «Langzeitnothilfe» den Weg in die Medien fanden. Wer seit über einem Jahr unter den Bedingungen des Nothilferegimes lebt, fällt unter diesen Begriff. Die Nothilfe umfasst die Unterkunft in Mehrbettzimmern in kantonalen Rückkehrzentren, Krankenkasse und acht Franken für den täglichen Jürg Schneider setzt sich seit Jahren für abgewiesene Asylsuchende ein. Nun werden er und der Verein «offenes scherli» von der Fachstelle Migration für ihr Engagement ausgezeichnet. Von Selina Leu* «Hartnäckig» ist das Wort, das immer wieder fällt, wenn über Jürg Schneider gesprochen wird. Daraufhin folgt in der Regel: «höchst professionell», «topseriös» oder sonst eine Bezeichnung, die Jürg Schneiders Erfahrungsschatz und Arbeitsweise beschreiben. Dabei fing alles ganz unspektakulär an: Im Jahr 2015 entschied der Kanton Bern, im Dorf Niederscherli eine Notunterkunft für Geflüchtete zu eröffnen. Rund 120 Männer sollten in der unterirdischen Zivilschutzanlage auf ihren Asylentscheid warten. Schnell fand sich im Dorf eine Reihe von Personen, die den Plänen des Kantons konstruktiv gegenübertreten wollten – denn der Widerstand aus der Bevölkerung war vorprogrammiert. «Meine Frau hatte damals die Idee, dass wir uns als Sprachlehrkräfte engagieren könnten», erinnert sich der heute 78-Jährige, der bis 2015 keinerlei Bezug zum Asylwesen hatte. Auf die vage Idee des Deutschunterrichts folgte bald die Gründung des Vereins «offenes scherli», der, wie der Name es antönt, seither als Bindeglied zwischen den Asylsuchenden und der lokalen Bevölkerung dient. Jürg Schneider, pragmatisch, wie er ist, übernahm bei der Vereinsgründung das Präsidium, weil sich sonst niemand für diesen Posten fand: «Ich sagte damals: Wenn unsere Arbeit davon abhängt, ob wir den Vorstand besetzen können, dann mache ich das halt.» Ganz im Konzeptionellen drin, dachte er über die eigene Dorfgrenze hinaus: Damit möglichst viele Menschen von der Arbeit in Niederscherli profitieren können, zog er in kürzester Zeit eine Informationsdatenbank zur Betreuung von Geflüchteten auf, eine Art «Asyl-Wiki». Stetiger Beistand trotz Gegenwind Die schweren Doppeltüren der Notunterkunft sind mittlerweile geschlossen, die asylsuchenden Menschen sind weitergereist, haben Wohnungen bezogen oder leben in einer anderen Unterkunft. Der Verein aber blieb bestehen, der Präsident blieb A S Y L Ein bescheidener, unermüdlicher Kämpfer
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