29 ENSEMBLE 2022 /68 —– Fokus spricht von einer «schmerzhaften psychischen Welle». In Schulen etwa würden im Moment neben Schweizer Flaggen oft auch ukrainische hängen. «Ich fand die Idee mit den Flaggen toll – aber es wäre auch für syrische Kinder wichtig gewesen, wenn vor elf Jahren bei Kriegsausbruch an derselben Stelle die Flagge unseres Landes gehangen hätte.» Was also tun, um Kriegsflüchtlingen, egal aus welchem Land, in der Schweiz ein Leben in Würde zu ermöglichen? Das Parlament ringt schon seit Jahren mit dieser Fragestellung – die vorläufige Aufnahme sei eine jahrelange politische Baustelle, schreibt die Schweizerische Flüchtlingshilfe in einer Publikation. Heute leben rund 36 000 Menschen mit diesem Status in der Schweiz; rund 80 Prozent von ihnen bleiben für immer hier. Für Seraina Nufer, ebenfalls Gast an der Jahrestagung, läge die Lösung für die Betroffenen auf dem Tisch: «Alle Geflüchteten, die den Schutz der Schweiz brauchen, sollten dieselben Rechte erhalten. Denn diese Rechte sind die Grundlage dafür, dass sie in der Schweiz Fuss fassen können.» Unter den gleichen Rechten versteht Seraina Nufer unter anderem: «Einen bedingungslosen Familiennachzug, Reisefreiheit innerhalb Europas, ausreichend finanzielle Unterstützung und einen raschen Zugang zu Arbeit und Integrationsmassnahmen.» Und aus Sicht der Flüchtlingshilfe ebenfalls ganz wichtig: sichere, legale Fluchtwege. Denn: «Die meisten Menschen haben gar keine Möglichkeit, legal nach Europa oder in die Schweiz zu gelangen», so Seraina Nufer. Gesetze sind gestaltbar Die Politik tut sich noch immer schwer mit der Thematik der Ungleichbehandlung: Im Sommer dieses Jahres sah es kurz so aus, als dass sich eine politische Mehrheit für eine entsprechende Kommissionsmotion hatte finden lassen, die eine Besserstellung der vorläufigen Aufnahme zum Ziel gehabt hätte. Doch dann steigt die FDP – «unter etwas Wahlkampfgetöse», wie Carsten Schmidt es nennt – aus. Die Mitte-Partei beginnt daraufhin ebenfalls zu zweifeln; damit fehlt dem Anliegen im Parlament die politische Mehrheit. Ein erneuter Vorstoss von Grünen, SP und Grünliberalen ist zwar hängig, doch er könnte es im Bundeshaus schwer haben. Gerade deshalb sei es wichtig, dass die Diskussion nun lanciert sei, sind sich die Tagungsteilnehmenden einig: Ein Blick in die Geschichte zeige, dass eine aktive, wache Zivilgesellschaft immer auch Einfluss auf die Ausgestaltung der Politik hatte, so die Historikerin Derya Bozat. Kathrin Buchmann formuliert es so: «Unsere Gesetze machen nicht die Verwaltung, auch nicht die Kirche. Die Gesetze machen wir alle. Wir alle sind hier gefordert, unserem Gewissen zu folgen, damit wir eine Gesellschaft aufbauen, die nach unseren Überzeugungen in die Zukunft gehen kann.» Derya Bozat findet es zudem wichtig, dass die «Zivilgesellschaft auch für Menschen ohne Schutzstatus Präsenz zeigt, dass wir auch bei anderen Flüchtlingsgruppen nachfragen, wie es ihnen geht und ihnen Zeit schenken». Die Ungleichbehandlung ist gemäss der Journalistin Zaher Al Jamous belastend. Selon la journaliste Zaher Al Jamous, l’inégalité de traitement est pesante. © Adrian Hauser
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