12 Dossier —– ENSEMBLE 2023/69 INTERVIEW «Die Armut hat sich gewandelt» In der Westschweiz sind die Centres sociaux protestants CSP (Protestantische Sozialzentren) zu einem nicht mehr wegzudenkenden Faktor bei der Hilfe für die Bedürftigsten geworden. Im Berner Jura und in der Stadt Biel leistet die Institution strukturelle Unterstützung für Personen, die von Armut betroffen sind. Interview mit dem Direktor Pierre Ammann. Von Nathalie Ogi Wie ist die Lage an der Armutsfront in der Schweiz? Die CSP beobachten schon seit einigen Jahren eine zunehmende Verarmung von Personen, die aus der Mittelschicht stammen. Letztere lässt sich in zwei Gruppen einteilen: die untere Mittelschicht und die obere Mittelschicht. Wir stellen fest, dass niemand mehr vor Verarmung sicher ist. Verschiedene unvorhergesehene Ereignisse wie etwa ein Arbeitsplatzverlust, ein Burnout oder eine Trennung können zusammenkommen und sich gegenseitig verschärfen. Ist das der Fall, geraten Personen, die eigentlich nicht ins Schema des typischen Armen passen, in wirtschaftliche Schwierigkeiten, die sie zuvor noch nie erlebt haben und auf die sie psychisch nicht vorbereitet sind. Sie müssen sich unvermittelt eingestehen, dass sie nun auch zu dieser Bevölkerungskategorie gehören. Die Armut hat sich also im 21. Jahrhundert etwas gewandelt. Man geht heute davon aus, dass rund 20 Prozent der Haushalte nicht mehr D dazu in der Lage sind, eine unvorhergesehene Ausgabe von mehr als 2500 Franken – etwa für eine Zahnbehandlung oder eine Autoreparatur – aufzufangen. Welche Hilfe bietet das CSP? Das CSP verteilt keine Lebensmittel, wie das andere Hilfswerke in der Schweiz tun. In bestimmten Notfällen verteilen wir ab und zu Migros- Einkaufsgutscheine. Unsere Rolle ist in erster Linie strukturierender Art. Wenn sich Leute an uns wenden, nimmt unsere Sozial- und Schuldenberatungsabteilung eine Analyse ihrer finanziellen Situation vor, untersucht ihr Haushaltsbudget und dergleichen. Es geht darum herauszufinden, ob das Defizit struktureller Art ist und wie umfassend es ist. Wir wollen erfahren, welche Schulden vorliegen und wie hoch sie sind. Dabei kann es vorkommen, dass wir eine private Stiftung angehen und externe Mittel erbitten, um ausnahmsweise eine finanzielle Unterstützung zu ermöglichen, die beispielsweise dazu dienen kann, ausstehende Krankenkassenprämien oder Stromrechnungen zu begleichen. Während der Pandemie konnten wir auch auf die Glückskette zurückgreifen, um jenen unter die Arme greifen zu können, die durch das Netz fielen. Diese Mittel sind nun aber erschöpft oder die Bezugsdauer läuft ab. Unsere Rolle besteht vor allem darin, die Hilfesuchenden so zu unterstützen, dass sie selbst Lösungen für ihre Probleme finden können, etwa durch einen Umzug, den Verzicht auf das Auto oder andere nicht lebensnotwendige Ausgaben. Wir beschränken uns darauf, Wege aufzuzeigen, wir drängen nichts auf. Pierre Ammann, Direktor des CSP Bern-Jura © Nathalie Ogi
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=