Das Tabu aufbrechen, ein erster Schritt − Geschlechtsspezifische Gewalt Briser le tabou, un premier pas – Violence de genre Nr . /No 71 —— Oktober / Octobre 2023 Das Magazin der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn Le Magazine des Eglises réformées Berne-Jura-Soleure
Inhalt —– ENSEMBLE 2023/71 I N H A L T I M P R E S S UM ENSEMBLE — Magazin für mitarbeitende, ehrenamtliche und engagierte Mitglieder der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn / Magazine pour les membres engagés, collaborateurs et bénévoles des Eglises réformées Berne-Jura-Soleure — Herausgeberin / Editeur: Reformierte Kirchen BernJura-Solothurn / Eglises réformées Berne-Jura- Soleure / Altenbergstrasse 66, Postfach / Case postale, 3000 Bern 22, ENSEMBLE@refbejuso.ch (auch für Abobestellungen) Erscheinungsweise / Parution: 4-mal pro Jahr / 4 fois par année — Auflage / Tirage: 7300 — Nächste Ausgabe / Prochaine parution: Ende Dezember / fin décembre Redaktion / Rédaction: Adrian Hauser (verantwortlich / responsable), Nathalie Ogi, Kirchliche Bibliotheken (Schaufenster), Tony Marchand (Cartoon), Rahel Gerber (Layout) — Übersetzungen / Traductions: André Carruzzo, Rolf Hubler (Deutsch), Gabrielle Rivier, Nadya Rohrbach — Korrektorat / Corrections: Renate Kinzl — Titelbild / Image de couverture: Frauen demonstrieren 2020 in Bern mit einem Flashmob für eine Welt ohne Gewalt an Frauen. (Keystone/Peter Klaunzer) Grafisches Konzept / Concept graphique: Neidhart Grafik, Klösterlistutz 18, 3013 Bern — Inhaltliches Konzept und Beratung / Concept du contenu et conseil: hpe Kommunikation, Sustenweg 64, 3014 Bern — Layout / Druck / Impression: Jost Druck AG, Stationsstrasse 5, Postfach 102, 3626 Hünibach 4 DOSSIER GESCHLECHTSSPEZIFISCHE GEWALT Violence de genre 10 14 18 19 20 Interview – «Opfer sind nie mitschuldig» Interview – «Les torts ne sont jamais partagés» Orientierung für Kirchgemeinden – Was tun bei Gewalt Une orientation pour les paroisses – Que faire en cas de violence? 16 jours contre la violence de genre: un projet-pilote en Suisse romande 16 Tage gegen Gewalt an Frauen: Kirchgemeinde Spiez Opferberatung – Betroffenen eine Stimme geben Aide aux victimes – Donner une voix à celles qui sont touchées 22 FOKUS Aktuelles aus Bern-Jura-Solothurn FOCUS Actualités de Berne-Jura-Soleure 22 24 25 Auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht Kirchenrecht Abschlussfeier RefModula 26 KREUZ UND QUER Aus den Bezirken, Kirchgemeinden und dem Haus der Kirche DE LONG EN LARGE Régions, paroisses et Maison de l’Eglise 26 27 28 29 Synodalrat – Sieben Unterschriften – ein Versprechen Conseil synodal – Sept signatures – une promesse Veranstaltungshinweis – Interreligiöse Tagung Manifestation – Journée interreligieuse Weiterbildungstipps Prädikantinnen und Prädikanten – Informationsabend zur Ausbildung Veranstaltungshinweis – Gottesdienst für pensionierte Pfarrpersonen Avis de manifestation – Culte pour les pasteures et pasteurs à la retraite 31 SCHAUFENSTER VITRINE
3 ENSEMBLE 2023/71 —– Editorial Geschlechtsspezifische Gewalt ist heimtückisch und kann alle in unserer Gesellschaft treffen. Ob in Form von Schlägen oder Beleidigungen, ob gegen Frauen, Homosexuelle oder andere Geschlechtsidentitäten gerichtet, Gewalt hat immer schwerwiegende Folgen für die Opfer. Aus Angst vor Stigmatisierung oder dem Verlust von Sicherheiten wie beispielsweise finanziellen Ressourcen ziehen es die Betroffenen oft vor zu schweigen. Auch dieses Jahr führt die feministische Friedensorganisation cfd ihre Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» durch. Unterstützt von den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn will sie die Bevölkerung, aber auch die Behörden und die Politik sensibilisieren und informieren. Nicht weniger als 200 Organisationen, darunter auch Kirchgemeinden, beteiligen sich an den zahlreichen Aktionen, Konferenzen und Workshops, die vom 25. November bis zum 10. Dezember stattfinden. Anlässlich dieser 16. Ausgabe der Kampagne liegt der Schwerpunkt auf psychischer Gewalt, die oft subtil und von aussen kaum sichtbar, für die Opfer aber immer einschneidend ist. In Europa sind über 40 Prozent der Frauen regelmässig von psychischer Gewalt betroffen, wie Kampagnenleiterin Anna-Béatrice Schmaltz von der feministischen Friedensorganisation cfd in unserem Dossier erläutert. Sie erklärt aber auch, welche Mittel und Wege es gibt, geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern. Massnahmen dagegen wurden auch in der Istanbul-Konvention festgelegt, die 2018 in der Schweiz in Kraft trat. Trotzdem gibt es noch viel zu tun, um geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen. Neu ist auch, dass die Kampagne als Pilot auch in der Romandie und im Tessins stattfindet. Der cfd hofft, auf diese Weise eine landesweite Aktion auf die Beine stellen und die Wirkung deutlich steigern zu können. Selbstverständlich sind auch die Kirchgemeinden eingeladen, sich daran zu beteiligen. So können sie gegenüber den Gemeindemitgliedern ein Zeichen setzen und sich für eine gewalt- und diskriminierungsfreie Gesellschaft einsetzen. LIEBE LESERINNEN UND LESER CHÈRE LECTRICE, CHER LECTEUR D E D I T O R I A L Nous vous souhaitons une lecture enrichissante Wir wünschen Ihnen eine bereichernde Lektüre Nathalie Ogi, rédactrice / Redaktorin Insidieuse, la violence de genre peut frapper tout le monde dans notre société. Potentiellement, personne n’est épargné. Qu’elle prenne la forme de coups ou d’insultes, qu’elle soit dirigée contre les femmes, les homosexuels ou d’autres genres, la violence a toujours de graves conséquences pour les victimes. Qui préfèrent encore trop souvent se taire, par peur de la stigmatisation ou encore d’une perte de ressources financières. Cette année encore, l’organisation féministe pour la paix cfd mène sa campagne «16 jours contre la violence basée sur le genre». Soutenue par les Eglises réformées Berne-Jura-Soleure, elle vise à sensibiliser et informer la population, mais également les pouvoirs publics et les politiques. Pas moins de 200 organisations, dont des paroisses participent aux nombreuses actions, conférences et ateliers qui se tiendront du 25 novembre au 10 décembre prochains. A l’occasion de cette 16e édition, l’accent est mis particulièrement sur les violences psychologiques, souvent subtiles et invisibles de l’extérieur, mais toujours redoutables pour les victimes. En Europe, pas moins de 40 % des femmes les subissent régulièrement, comme l’explique dans notre dossier Anna-Béatrice Schmaltz, de l’organisation cfd et directrice de la campagne. Vous apprendrez qu’il existe des moyens pour combattre les violences genrées, ainsi que l’a établi la convention d’Istanbul, entrée en vigueur en Suisse en 2018. Malgré cela, de nombreux efforts restent à mettre en œuvre dans notre pays pour lutter contre ce fléau. Autre nouveauté, un projet-pilote est lancé cette année du côté de la Suisse romande et du Tessin. Le cfd espère de cette manière mettre en place une véritable action à l’échelle nationale et augmenter ainsi notablement l’impact de cet événement. Bien évidemment, les paroisses sont invitées à y participer. Une manière pour elles, d’influencer concrètement les membres de la communauté et d’agir en faveur d’une société sans violences ni discriminations.
4 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 GESCHLECHTSSPEZIFISCHE GEWALT DAS TABU AUFBRECHEN, EIN ERSTER SCHRITT VIOLENCE DE GENRE BRISER LE TABOU, UN PREMIER PAS Von geschlechtsspezifischer Gewalt zu sprechen – einer Gewalt, von der vor allem Frauen betroffen sind, aber nicht nur – bedeutet, sich mit einem verbreiteten Problem auseinanderzusetzen, das verschiedene Ursachen und Formen aufweist. Sich in dieses allgegenwärtige, aber oft verschleierte Phänomen zu vertiefen, heisst auch, ein Tabu aufzubrechen. Für die Kirchen geht es vor allem darum, der unbedingten Forderung nachzukommen, gegen sämtliche Formen der Gewalt und der Ungerechtigkeit zu kämpfen. Von Maria Vila Die geschlechtsspezifische Gewalt ist ein Sammelbegriff, mit dem sämtliche Gewaltakte bezeichnet werden, die ihren Ursprung in gesellschaftlich konstruierten Unterschieden und Hierarchien zwischen den Geschlechtern haben. Sie bezieht sich auf Geschlechternormen und -stereotype und auf Machtverhältnisse. Sie kann sich äussern in körperlicher, psychologischer oder sexueller Gewalt, aber auch darin, dass der Zugang zu Ressourcen oder Dienstleistungen verweigert wird. Eine unsichtbare Epidemie Diese Gewalt, die in sämtlichen Gesellschaftsschichten und in sämtlichen Ländern dieser Erde vorkommt, wird zu Hause, in Paarbeziehungen, in Familien, am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Ausbildung, im öffentlichen Raum, im Internet und in den sozialen Netzwerken ausgeübt. Trotz ihrer Omnipräsenz und ihrer verheerenden Auswirkungen auf die Personen, Familien und Gemeinschaften in der ganzen Welt bleibt sie ein Tabuthema. Ihr Ausmass wird relativiert, heruntergespielt oder schlicht bestritten. Auch wenn verlässliche Zahlen immer noch fehlen, ist bekannt, dass Frauen und junge Mädchen die mit Abstand häufigsten Opfer sind. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO wird eine von drei Frauen im Verlauf ihres Lebens zu einem Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt. Aber diese Gewalt wird oft nicht sichtbar gemacht, und die Opfer ziehen es in der Regel vor, zu schweigen – aus Angst, stigmatisiert zu werden oder Opfer von weiteren Gewalttaten zu werden. Es ist zwingend, sich zu hinterfragen Es steht ausser Frage, dass die Kirchen angesichts dieser Tragödie aktiv werden müssen. «Unser Glaube ruft uns auf zu Liebe, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Frieden, Würde. Es ist von daher zwingend, dass wir gegen sämtliche Formen von Gewalt und Ungerechtigkeit beten und handeln», betont Sara Speicher, Kommunikationsbeauftragte beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK). Gemäss Barbara Heer, Leiterin der Stabsstelle Frauen und Gender bei «Mission 21», ist es wichtig, im Hinblick auf das Handeln nach den Ursachen zu forschen. Zu diesen zu rechnen sind etwa die strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern oder die wirtschaftliche Unsicherheit, in der Frauen leben, vor allem aber die Stereotype, die das Männliche in Verbindung bringen mit Dominanz und der Ausübung von Macht und Gewalt. «Die Religion ist eine wichtige Ressource, die missbräuchlich zur Unterdrückung eingesetzt wird. Man bedient sich der Bibel, um die Unterlegenheit von Frauen zu rechtfertigen. Kirchen verfügen über einen besonderen Einfluss. Deshalb
5 ENSEMBLE 2023/71 —– Dossier © Keystone / Peter Klaunzer engagieren wir uns in der theologischen Ausbildung und in der Förderung einer kontextuellen Theologie, welche die Menschenrechte berücksichtigt, die Werte der Gleichheit verteidigt und die Gewalt verurteilt», sagt sie. Donnerstags in Schwarz Um dem Mangel an Sensibilisierung zu begegnen, hat der ÖRK die internationale Kampagne «Donnerstags in Schwarz» für eine Welt ohne Vergewaltigung und Gewalt ins Leben gerufen. Die während der Dekade der Kirchen in Solidarität mit den Frauen (1988–1998) entstandene Aktion ist zu einer symbolischen Solidaritätsbewegung geworden, welche die Anstrengungen von Personen und Organisationen öffentlich macht, die sich gegen sämtliche Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt wenden. «Zahlreiche Kirchen auf der ganzen Welt haben sich der Bewegung «Donnerstags in Schwarz» angeschlossen, um das Bewusstsein für die geschlechtsspezifische Gewalt und die Tatsache, dass sie auf sämtlichen Ebenen und in allen Gemeinschaften präsent ist, zu schärfen», führt Sara Speicher aus. «Eine der Stärken der Bewegung besteht darin, dass sich sämtliche Personen an ihr beteiligen können, sei es als Einzelperson, in einer Gruppe oder in der Kirche.» Und es ist sehr einfach. Es geht darum, immer donnerstags Schwarz zu tragen. «Wir wissen von Frauen, die sich während Jahren an Donnerstagen immer schwarz gekleidet haben, von Kirchen und Gruppen von Personen aus Universitäten, die Anlässe, Seminare und Sensibilisierungsprojekte unter dem Banner von ‹Donnerstags in Schwarz› durchgeführt haben», fährt sie fort. «Die Bewegung ist ausreichend offen, dass jede Person den Raum findet, sich dem Thema im jeweiligen Kontext zu widmen, unabhängig von ihrer Region, ihrem Land oder ihrem Glauben. Das Wichtige ist, Woche für Woche bewusst schwarze Kleider oder einen Badge zu tragen, um sich selbst der Tragödie, welche die Gewalt darstellt, bewusst zu werden. Die damit einhergehende persönliche Veränderung strahlt nach aussen ab, führt zu Gesprächen und inspiriert andere, darüber zu sprechen und sich dessen bewusst zu werden.» Das Engagement von Mission 21 «Mission 21» in Basel ist Teil dieser weltweiten Bewegung. Zusätzlich zur Unterstützung von «Donnerstags in Schwarz» beteiligt sie sich auch an der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», die alljährlich von der feministischen Friedensorganisation cfd organisiert wird. 2022 führte young@mission21, das Netzwerk für junge Erwachsene, zudem eine Online-Kampagne für die Gleichstellung der Geschlechter durch. «Mit unseren öffentlichen Veranstaltungen und unseren Ausbildungen gehen wir das Thema geschlechtsspezifische Gewalt und deren Ursprung – die Ungleichheit – an, und wir tragen so dazu bei, die Kirchgemeinden und die Gesellschaft ganz allgemein in der Schweiz und in der Welt zu sensibilisieren», sagt Barbara Heer. © Albin Hillert/ÖRK Mitglieder des Zentralkomitees des Ökumenischen Rates der Kirchen beteiligen sich an der Aktion «Donnerstags in Schwarz». Des membres du Comité central du Conseil œcuménique des Eglises participent à l’action «Jeudis en noir».
6 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 «Mission 21» engagiert sich in 20 Ländern Afrikas, Asien und Lateinamerikas. Bei sämtlichen Aktivitäten wird die Geschlechterperspektive einbezogen. Die Überwindung der geschlechtsspezifischen Gewalt ist eines der fünf Aktionsfelder, neben der Förderung des interreligiösen und interkulturellen Friedens, der Sicherung des Lebensunterhalts, der theologischen Ausbildung und der Good Governance. «Wir konzentrieren uns auf zwei Bereiche: die Prävention und die Unterstützung von ‹Überlebenden›, von Opfern. Selbst in Projekten, bei denen es um den Lebensunterhalt von Frauen geht, sprechen wir die geschlechtsspezifische Gewalt direkt an, die Frauen werden dadurch weniger verletzlich, weil ihre gesellschaftliche Stellung gestärkt wird», führt sie aus. «2022 konnten wir mit unseren Aktivitäten in diesem Bereich 16 000 Personen erreichen.» Eine langfristige Arbeit, auch in der Schweiz Diese Arbeit und die Sensibilisierungskampagnen, aber auch die Bewegung #MeToo oder, was die Schweiz anbelangt, der Frauenstreik 2019 sind Fortschritte. Sie haben es ermöglicht, die Sichtbarkeit zu erweitern. Allerdings betont Sara Speicher: «Das bedeutet nicht, dass es einfacher wäre, darüber zu sprechen, oder dass die Gewaltakte rückläufig wären. Tatsächlich ist es so, dass die Lockdowns und die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-Pandemie zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt geführt haben. Vor uns steht noch viel Arbeit.» Die Finanzierung von geschützten Unterkünften und der Unterstützung von Opfern ist sowohl international als auch hier in der Schweiz unzureichend. Bedauerlicherweise mangelt es auch erheblich an Daten. «In der Schweiz und weltweit sind nur sehr wenige Zahlen greifbar. Das Problem wird massiv unterschätzt und bleibt stark tabuisiert. Für die Forschung steht zu wenig Geld zur Verfügung», hält Barbara Heer fest. Zudem müssen auf politischer und rechtlicher Ebene weitere Anstrengungen unternommen werden. In der Schweiz etwa ist im Rechtswesen – trotz der Revision des Sexualstrafrechts und der Inkraftsetzung des Übereinkommens von Istanbul zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt – weiterhin eine Ambivalenz und ein gewisser Widerstand auszumachen. «Das erneute Aufbrechen von Traumas im Rahmen von Befragungen ist ein wichtiges Thema. Der Strafprozess ist eine schwere Belastung für die Überlebenden, selten kommt es zu einer Verurteilung», gibt sie zu bedenken. Die Kirchen, Akteure des Wandels Die Tragödie der geschlechtsspezifischen Gewalt ist immer noch eine offene Wunde. «Das heisst, dass wir bei unseren Bemühungen nicht nachlassen dürfen», hält Sara Speicher fest. «Wir beim ÖRK vernehmen zahlreiche Geschichten von Personen aus der ganzen Welt, die sich von ‹Donnerstags in Schwarz› inspirieren liessen, die motiviert sind zu handeln und darauf hinarbeiten, die geschlechtsspezifische Gewalt zu überwinden.» Diese Bewusstwerdung hat dazu geführt, dass in den Kirchen eine Politik und Praktiken gegen den Missbrauch und die sexuelle Belästigung eingeführt wurden. «Kirchen sind auch Arbeitgeber, öffentliche Orte, an denen diese Form der Gewalt entsteht. Unsere Partnerkirchen müssen Regelungen gegen sexuelle Belästigungen vorweisen können. Wir organisieren Kurse und Gespräche zu diesem Thema», erzählt Barbara Heer. Eine weitere grössere Herausforderung besteht darin, die Männer mit ins Boot zu holen und Konzepte von Männlichkeit auf den Prüfstand zu stellen. «Männer spielen eine Schlüsselrolle im Hinblick auf den Abbau von geschlechtsspezifischer Gewalt. Es ist wichtig, ihnen aufzuzeigen, dass auch ihre Freiheit durch das Patriarchat beschnitten wird», fährt sie fort. Und abschliessend meint sie: «Die Arbeit für den Frieden wird allzu oft aufgefasst als Abwesenheit von Krieg, und die alltägliche Gewalt, die geschlechtsspezifische Gewalt, geht darob vergessen. Die Kirchen als Akteure des Wandels müssen ihre Friedensbotschaft auch in diesen Bereich hereintragen.» Falls Sie mehr erfahren möchten, hilft Ihnen ein Blick auf die nachfolgend genannten Websites weiter: − Kampagne «Donnerstags in Schwarz» des Ökumenischen Rates der Kirchen − Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», koordiniert von der feministischen Friedensorganisation cfd − Projekte von Mission 21 im Aktionsbereich «Gleichheit der Geschlechter» © Mike DuBose/ÖRK Wandteppich als Teil der Kampagne «Donnerstags in Schwarz» gegen geschlechtsspezifische Gewalt an der 11. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Karlsruhe, 2022. Tapisserie faisant partie de la campagne «Jeudis en noir» contre la violence sexiste lors de la 11e Assemblée du Conseil œcuménique des Eglises à Karlsruhe, 2022.
7 ENSEMBLE 2023/71 —– Dossier © Lenka Reichelt F Parler de violence de genre, une violence qui touche surtout les femmes, mais pas seulement, c’est aborder un problème généralisé aux causes et aux formes multiples. S’attaquer à ce phénomène omniprésent, mais souvent invisibilisé, c’est aussi briser un tabou. Et pour les Eglises, c’est avant tout répondre à l’impératif de lutter contre tous les types de violences et d’injustices. Par Maria Vila La violence fondée sur le genre est un terme générique désignant les actes de violence basés sur des différences et hiérarchies socialement construites entre les genres. Elle se réfère aux normes et stéréotypes de genre et aux relations de pouvoir. Il peut s’agir de violences physiques, psychologiques, sexuelles ou encore de refus d’accès à des ressources ou à des services. Une épidémie invisible Commise dans toutes les couches de la société de tous les pays du monde, la violence de genre se produit à la maison, dans les relations de couple, dans les familles, sur le lieu de travail, à l’école ou dans la formation, dans l’espace public, sur Internet et sur les réseaux sociaux. Or, malgré son omniprésence et ses effets dévastateurs sur les personnes, les familles et les communautés du monde entier, elle reste un sujet tabou, dont la gravité tend à être relativisée, minimisée ou niée. Même si à ce jour les chiffres font toujours défaut, on sait que les femmes et les jeunes filles sont, de loin, les principales victimes. D’après l’Organisation mondiale de la santé (OMS), une femme sur trois est victime de violence physique ou sexuelle au cours de sa vie. Mais ces violences sont souvent cachées, et les victimes préfèrent généralement garder le silence, de peur d’être stigmatisées ou de subir d’autres actes de violence. L’impératif de se questionner et d’agir Face à cette tragédie, les Eglises ont indéniablement un rôle à jouer. «Notre foi nous appelle à l’amour, à la compassion, à la justice, à la paix, à la dignité, ce qui rend impératif que nous prions et agissons contre toutes les formes de violence et d’injustice», affirme Sara Speicher, chargée de communication au Conseil œcuménique des Eglises (COE). Selon Barbara Heer, responsable du service Femmes et genre de Mission 21, pour agir il est important d’examiner les causes, comme l’inégalité structurelle entre les genres ou l’insécurité économique des femmes, et surtout les stéréotypes qui définissent le masculin par la domination, l’exercice du pouvoir et la violence. «La religion est une ressource importante qui est utilisée de manière abusive pour la subordination. On se sert de la Bible pour légitimer l’infériorité des femmes. Les Eglises ont une influence particulière. C’est pourquoi nous investissons dans la formation théologique, dans la promotion d’une théologie contextuelle qui prend en compte les © Ivars Kupcis/ÖRK Tiré d’une vidéo pour la campagne «Jeudis en noir». Aus einer Videoproduktion für die Kampagne «Donnerstags in Schwarz».
8 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 droits humains, défend les valeurs d’égalité et condamne la violence», dit-elle. Les Jeudis en noir Pour pallier au manque de sensibilisation, le COE a lancé la campagne internationale des Jeudis en noir pour un monde sans viol ni violence. Née pendant la Décennie œcuménique des Eglises solidaires des femmes (1988-1998), elle est devenue un mouvement symbolique de solidarité qui met en lumière les efforts de toutes les personnes et organisations qui s’opposent à toutes les formes de violence de genre. «Beaucoup d’Eglises du monde entier se sont jointes aux Jeudis en noir pour accroître la prise de conscience sur la violence de genre et sur le fait qu’elle est présente à tous les niveaux et dans toutes les communautés», explique Sara Speicher. «L’un des points forts du mouvement est que toutes les personnes peuvent y participer, soit à titre individuel, en groupe ou au sein des Eglises.» Et c’est très simple. Il s’agit de porter du noir tous les jeudis. «Nous entendons parler de femmes qui se sont habillées en noir chaque jeudi pendant des années, d’Eglises et de groupes d’universitaires qui ont organisé des manifestations, des séminaires et des projets de sensibilisation sous la bannière des Jeudis en noir», poursuit-elle. «Le mouvement est suffisamment ouvert pour que chacun trouve la manière d’aborder les questions de son contexte particulier, indépendamment de sa région, pays ou confession. L’essentiel est d’agir délibérément et de porter du noir ou un badge chaque semaine pour prendre conscience soi-même de la tragédie de la violence. Cette transformation personnelle irradie vers l’extérieur, amenant à des rencontres et inspirant les autres à en parler, à en être conscients.» L’engagement de Mission 21 L’association Mission 21 à Bâle fait partie de ce mouvement mondial. En plus de soutenir les Jeudis en noir, elle participe à la campagne «16 journées de mobilisation contre la violence sexiste», organisée chaque année par le cfd, l’ONG féministe pour la paix, et en 2022, leur réseau de jeunes, young@mission21, a aussi réalisé une campagne en ligne pour promouvoir l’égalité des genres. «Par le biais de nos manifestations publiques et de nos formations, nous abordons le thème de la violence basée sur le genre et de l’inégalité en tant que cause, et contribuons ainsi à sensibiliser les paroisses et la société en général en Suisse et dans le monde», dit Barbara Heer. Engagée dans 20 pays d’Afrique, d’Asie et d’Amérique latine, Mission 21 intègre la perspective de genre dans toutes ces activités et vaincre la violence de genre est l’un de ses cinq champs d’action, avec la promotion interreligieuse et interculturelle de la paix, la garantie des moyens de subsistance, l’éducation théologique et la bonne gouvernance. «Nous nous concentrons sur deux domaines, à savoir, la prévention et le soutien des personnes ‹survivantes›, des victimes. Et même dans les projets où il s’agit des moyens de subsistance des femmes, nous abordons directement la violence de genre et les femmes deviennent moins vulnérables, car leur position dans la société est renforcée», indique-t-elle. «En 2022, nous avons pu toucher 16 000 personnes grâce à nos activités dans ce domaine.» Un travail de longue haleine, aussi en Suisse Ce travail et ces campagnes de sensibilisation, ainsi que le mouvement #MeToo ou, en ce qui © Ivars Kupcis/ÖRK «Jeudis en noir» au Kirchentag à Dortmund. «Donnerstags in Schwarz» am Kirchentag in Dortmund.
9 ENSEMBLE 2023/71 —– Dossier concerne la Suisse, la grève des femmes en 2019, sont des pas en avant. Ils ont permis d’accroître la visibilité. Mais, comme le souligne Sara Speicher, «ceci ne signifie pas nécessairement qu’il soit plus facile d’en parler ou que les actes de violence aient diminué. En fait, le confinement et les répercussions économiques pendant la pandémie du Covid ont augmenté les cas de violence domestique. Il nous faudra encore beaucoup travailler.» Le financement des places de protection et de soutien aux victimes est faible, autant sur le plan international que national. On déplore aussi un manque important de données. «Il y a très peu de chiffres en Suisse et dans le monde. C’est un problème massivement sous-estimé qui demeure fortement tabou. On consacre trop peu d’argent à la recherche», affirme Barbara Heer. En outre, au niveau politique et juridique il reste des efforts à faire. En Suisse, par exemple, malgré la révision du droit pénal en matière sexuelle et la mise en œuvre de la Convention d’Istanbul contre la violence à l’égard des femmes et la violence domestique, il subsiste une ambivalence et une certaine résistance que l’on retrouve dans le système judiciaire. «Dans les tribunaux, il y a des préjugés à l’égard des victimes. Souvent, on ne croit pas les femmes. La retraumatisation est un thème important lors des interrogatoires. Le procès pénal est une lourde charge pour les survivants et conduit rarement à une condamnation», dit-elle. Les Eglises, acteurs de changement La tragédie de la violence de genre reste une plaie à vif. «Cela signifie seulement que nous ne pouvons pas cesser nos efforts», argumente Sara Speicher. «Au COE, nous parviennent des nombreuses histoires de personnes du monde entier inspirées par la campagne des Jeudis en noir, motivées à agir, à promouvoir l’engagement de vaincre la violence de genre.» Cette prise de conscience a amené à l’introduction de politiques et pratiques contre les abus et le harcèlement sexuel au sein des Eglises. «Les Eglises sont aussi des employeurs, des lieux publics où ce type de violence se produit. Nos Eglises partenaires doivent avoir des règlements contre le harcèlement sexuel. Nous organisons des cours et des échanges à cet effet», dit Barbara Heer. Autre enjeu majeur: impliquer les hommes et examiner les conceptions de la masculinité. «Les hommes jouent un rôle clé dans la diminution de la violence de genre. Il est important de leur montrer que leur liberté est aussi limitée par le patriarcat», poursuit-elle. «Le travail pour la paix est trop souvent compris comme l’absence de guerre, et la violence quotidienne, la violence de genre, est oubliée. Les Eglises, en tant qu’acteurs de changement, doivent apporter leur message de paix dans ce domaine», conclut-elle. Pour en savoir plus, consultez les pages web suivantes: − Campagne «Jeudis en noir» du Conseil œcuménique des Eglises − Campagne «16 journées de mobilisation contre la violence sexiste» coordonnée par le cfd, l’ONG féministe pour la paix − Projets de Mission 21 dans le champ d’action «Egalité des genres» © Marcelo Schneider/ÖRK «Pour un monde sans viol et sans violence». «Für eine Welt ohne Vergewaltigung und Gewalt».
10 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 Anna-Béatrice Schmaltz leitet bei der feministischen Friedensorganisation cfd die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen», die von den Reformierten Kirchen Bern-JuraSolothurn sowie einigen Kirchgemeinden unterstützt wird. Sie gibt Auskunft über die Kampagne und darüber, was geschlechtsspezifische psychische Gewalt bedeutet. Von Adrian Hauser Was ist im Zusammenhang mit der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» alles geplant? Es sind viele Veranstaltungen und Aktionen geplant, um Gewalt an Frauen und spezifisch psychische Gewalt in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Unser Ziel ist, dass man vertieft über diese Themen spricht. Wir arbeiten grundsätzlich mit einem Präventionsansatz. Denn wir sind überzeugt, dass wirkungsvolle Prävention nur möglich ist, wenn die nötige Sensibilisierung und das Wissen vorhanden sind. Wir wollen mit der Kampagne auch Betroffene ansprechen, um bei diesen die Beratungsstellen bekannter zu machen. Es geht also um Sensibilisierung, aber auch um das Vermitteln von konkreten Informationen. Ganz genau. Wir wollen Hintergründe aufzeigen und erklären, warum Gewalt überhaupt stattfindet. Und wir wollen gesellschaftspolitische Forderungen stellen. Die Themen Gewalt und Gleichstellung sind beispielsweise eng miteinander verknüpft. Fehlende Gleichstellung führt zwangsläufig zu mehr geschlechtsspezifischer Gewalt. Im Gegenzug zementiert geschlechtsspezifische Gewalt bestehende Ungleichheiten. Wer beteiligt sich alles an der Kampagne? Es beteiligen sich rund 200 Organisationen und Gruppierungen daran. Das sind Kirchgemeinden, Menschenrechtsorganisationen, feministische Kollektive, Aktivistinnen, Frauenvereine, gewisse Parteien, Fachstellen wie Frauenhäuser oder kantonale Koordinationsstellen gegen häusliche Gewalt. Die Kampagne ist sehr breit abgestützt. Und Sie stellen den beteiligten Organisationen eine Art Werkzeugkoffer für eigene Aktionen zur Verfügung? Ja, wir sind das Dach der Kampagne. Wir wollen gemeinsam mit allen Beteiligten ein Zeichen setzen und auf die Thematik aufmerksam machen. I N T E R V I EW «Opfer sind nie mitschuldig» Durch die breite Abstützung erreichen wir auch sehr viele verschiedene Menschen. Nur wenn über Gewalt gesprochen wird, kann sie auch verhindert werden. Es ist nun das 16. Jahr, in dem die Kampagne durchgeführt wird. Wie hat sich die Kampagne über die Jahre entwickelt? Es beteiligen sich immer mehr Organisationen daran. Das Bewusstsein in der Öffentlichkeit für das Thema hat sich vergrössert. Wurde konkret in Bezug auf Gewalt etwas erreicht? Ist diese allenfalls zurückgegangen? Das ist schwierig zu sagen, da die vorhandenen Statistiken nur beschränkt darüber Auskunft geben. Es gibt das Hellfeld, das sind Fälle, die polizeilich gemeldet und in den Kriminalstatistiken erfasst wurden. Daneben gibt es die Dunkelziffern, worüber es in der Schweiz aber zu wenig Studien gibt. Wenn der Polizei mehr Fälle gemeldet werden, muss das nicht unbedingt heissen, dass es auch mehr Gewalt gibt. Es kann auch ein positives Signal sein und bedeuten, dass sich Frauen mehr Hilfe holen. Daher ist es grundsätzlich sehr schwierig zu sagen, ob geschlechtsspezifische Gewalt zu- oder abnimmt. Was raten Sie Betroffenen von geschlechtsspezifischer Gewalt? Wir ermutigen Frauen, die Gewalt erfahren, sich an Fachstellen zu wenden, also an eine Opferberatungsstelle. In einer akuten Bedrohungssituation sind die Polizei und Frauenhäuser erste Anlaufstellen. Müssen sich Opfer erst bewusst werden, in welcher Situation sie stecken? Ja, bei häuslicher Gewalt ist es oft ein schleichender Prozess. Die Täter reden den Betroffenen häufig ein, dass diese selbst schuld sind. Es handelt sich bei den Tätern meistens auch um Personen, die den Opfern sehr nahestehen und sich nach einer Eskalation entschuldigen. Zusätzlich sind vielleicht noch Verpflichtungen da wie ein Haus oder Kinder. In dieser Gewaltspirale ist Gewaltbetroffenen teilweise nicht mehr immer bewusst, dass die Situation nicht in Ordnung ist und dass sie das Recht auf ein gewaltfreies Leben haben. Wichtig ist, dass die Opfer wissen, dass sie nie mitschuldig sind und keine Verantwortung für erlebte Gewalt tragen. Dies gilt für alle Arten von Gewalt.
11 ENSEMBLE 2023/71 —– Dossier Ist es oft so, dass Opfer die Verantwortung auf sich nehmen? Ja, auf jeden Fall. Gerade wenn der Täter jemand ist, der einem sehr nahesteht oder von dem jemand sogar abhängig ist. Ein Abhängigkeitsverhältnis kann bestehen, wenn Gewalt vom Chef ausgeht und man auf den Job angewiesen ist. Oder es gibt auch die Situation, dass der Aufenthaltsstatus von Frauen mit Migrationshintergrund an den Ehemann geknüpft ist. Bei einer Scheidung besteht die Gefahr, dass solche Frauen die Schweiz verlassen müssen. Es gibt im Gesetz zwar eine Härtefallregelung, aber die ist sehr schwammig formuliert. Für einen Härtefall muss eine «gewisse erlittene Intensität» der Gewalt vorliegen. Was aber heisst das? Heisst dies, dass ein «bisschen» Gewalt in Ordnung ist? Was genau versteht man unter psychischer Gewalt? Psychische Gewalt können Beschimpfungen sein, jemand schlechtreden, ständige Kontrolle, Überwachung oder Stalking. «Gaslighting» ist auch ein Thema. Das bedeutet, dass jemand eine Situation herunterspielt und so die Betroffenen in der eigenen Wahrnehmung verunsichert. Jemand übt zwar Gewalt aus, stellt es aber gleichzeitig so dar, als würde dies gar nicht passieren. Für Betroffene ist es dann noch schwieriger, sich Hilfe zu holen, weil sie an ihrer eigenen Wahrnehmung zweifeln. Psychische Gewalt ist häufig von aussen unsichtbar. Sie hat jedoch schwerwiegende Folgen für die Betroffenen. Was kann eine Frau tun, die sich in einer solchen Situation befindet? Die wichtigste Anlaufstelle ist immer eine Opferberatungsstelle. Die gibt es in allen Kantonen. Oft kann man sich auch telefonisch beraten lassen oder per Chat. In Bern gibt es «AppELLE», das ist eine 24-Stunden-Hotline der Berner Frauenhäuser. Was kann man tun, um einen Gewaltkreislauf zu durchbrechen? Man sollte nicht nur mit den Betroffenen arbeiten, sondern gerade auch bei geschlechtsspezifischer Gewalt mit den Tatpersonen, um deren Rollenbilder zu verändern. Wir reden von geschlechtsspezifischer Gewalt, wenn das Geschlecht und die Ungleichheit aufgrund des Geschlechts bei der Ausübung von Gewalt eine Rolle spielen. Dabei fokussieren wir uns auf Frauen, die Täter sind allermeistens Männer. Es gibt natürlich auch Gewalt an Männern. Doch das ist nicht Bestandteil unserer Kampagne. Statistisch gesehen, sind Frauen ganz klar stärker betroffen. Wie häufig gibt es denn psychische Gewalt? Über 40 Prozent der Frauen in Europa sind betroffen von psychischen Gewalterfahrungen. Für die Schweiz haben wir leider keine genauen Zahlen. Es bräuchte unbedingt finanzielle Mittel für Studien, um solche Zahlen zu erhalten. Denn es ist schwierig, Präventionsarbeit zu leisten, wenn wir keine verlässlichen Zahlen haben. Was bräuchte es vonseiten der Behörden denn sonst noch, um die Situation zu verbessern? Ein wichtiger Schritt war die Istanbul-Konvention, die in der Schweiz 2018 in Kraft trat. In ihr wird sehr breit aufgezeigt, was es alles braucht, um geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern. Es geht um Prävention, Unterstützung, Schutz, Täterarbeit, finanzielle Mittel oder rechtliche Aspekte. Die Schweiz muss diese Konvention umsetzen, und wenn das alles umgesetzt ist, sind wir auf einem guten Weg. Eine Spezialität der Schweiz ist allerdings der Föderalismus und dieser zeigt Schwächen auf, weil es kantonale Unterschiede gibt. Einige Kantone sind bereits sehr weit, andere hinken hinterher. Je nachdem, wo eine betroffene Person in der Schweiz also lebt, erhält sie ein anderes Mass oder eine andere Form von Unterstützung. Das dürfte eigentlich nicht sein. Man sollte schweizweit darum bemüht sein, dass es genug Anlaufstellen und genügend finanzielle Ressourcen gibt. © Adrian Hauser Anna-Béatrice Schmaltz
12 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 INTERVIEW Les torts ne sont jamais partagés Anna-Béatrice Schmaltz, de l’organisation féministe pour la paix cfd, dirige la campagne «16 jours d’activisme contre les violences faites aux femmes» soutenue par Refbejuso et par quelques paroisses. Explications sur la campagne et sur la violence psychique genrée. Par Adrian Hauser Qu’avez-vous prévu en lien avec cette campagne? Nous organisons de nombreuses actions et manifestations afin d’attirer l’attention du public sur les violences, notamment psychiques, faites aux femmes, notre but étant de susciter un débat plus en profondeur. Notre travail est axé sur la prévention: nous sommes persuadés qu’en la matière, l’efficacité passe par la sensibilisation et l’information. Nous voulons aussi accroître la notoriété des antennes de conseil destinées aux victimes. Donc, il s’agit de sensibiliser mais aussi de diffuser des informations concrètes. Absolument. Nous voulons contextualiser et expliquer le surgissement de la violence. Et faire entendre nos revendications en matière de politique sociétale. Ainsi, la question de la violence et celle de l’égalité sont étroitement liées; or, un manque d’égalité mène forcément à un surcroît de violence genrée et inversement, la violence genrée cimente les inégalités existantes. Qui participe à cette campagne? Quelque 200 organisations et groupements parmi lesquels des paroisses, des organisations de F lutte pour les droits humains, des collectifs féministes, des militantes, des associations de femmes, certains partis, des centres de compétences tels que des foyers d’urgence ou des organes cantonaux de coordination de la lutte contre les violences domestiques. La campagne jouit d’un très large soutien. Et cfd offre-t-il aux organismes impliqués qui entendent mener leurs propres actions une boîte à outils? Oui, nous sommes la faîtière de la campagne. De concert avec toutes les parties prenantes, nous voulons poser un jalon et attirer l’attention sur le sujet. Grâce au très large soutien dont bénéficie la campagne, nous atteignons aussi de multiples destinataires de tous horizons. Pour empêcher la violence, il n’existe qu’un seul moyen: en parler. Cette année marque la 16e édition de cette campagne. Quelle est l’évolution? De plus en plus d’organismes s’y investissent et le public est de plus en plus sensibilisé. Concrètement, des résultats sont-ils visibles? La violence a-t-elle régressé? Il est difficile de répondre, car les statistiques existantes ne présentent que des informations limitées: elles montrent la partie émergée de l’iceberg, les cas signalés à la police qui ont été saisis dans les statistiques de la criminalité. En revanche, pour la partie immergée, nous manquons d’études en Suisse. Une augmentation du nombre de signalements à la police ne signifie pas nécessairement une hausse de la violence. Il peut aussi s’agir d’un signal positif qui indique que les femmes sont plus nombreuses à solliciter de l’aide. Il est donc vraiment très difficile de se prononcer sur l’évolution. © Adrian Hauser Anna-Béatrice Schmaltz
13 ENSEMBLE 2023/71 —– Dossier Que conseillez-vous aux victimes de violences? Nous les encourageons à se tourner vers des antennes spécialisées, c’est-à-dire vers un centre d’aide aux victimes. En cas de menaces graves, il faut immédiatement contacter la police et les foyers d’urgence. Les victimes doivent-elles commencer par prendre conscience de leur situation? Oui, les violences domestiques s’inscrivent souvent dans un processus insidieux. Il est fréquent que l’agresseur insinue que la victime est ellemême coupable. L’auteur des violences est souvent très proche de sa victime et s’excuse après un débordement. Par ailleurs, le contexte implique peut-être des responsabilités liées à une maison ou à des enfants. Dans la spirale de la violence, la victime n’est plus toujours tout à fait consciente que quelque chose ne tourne pas rond et qu’elle a droit à une vie à l’abri de la violence. Il est important que les victimes sachent que les torts ne sont jamais partagés, qu’elles ne sont pas responsables de la violence qu’elles ont subie, quel que soit le type d’agression. Est-il fréquent qu’une victime endosse la responsabilité? Oui, cela se produit lorsque l’agresseur est une personne dont la victime est très proche, voire dont elle dépend. Par exemple, un rapport de dépendance peut s’instaurer si votre chef vous maltraite et que vous ne pouvez pas vous permettre de perdre votre emploi. Ou, dans un parcours migratoire, si votre permis de séjour est lié au statut de votre mari: en cas de divorce, vous risquez de devoir quitter la Suisse. La loi prévoit bien une règle pour les cas de rigueur, mais sa formulation est très floue: pour décréter un cas de rigueur, la violence doit avoir revêtu une «certaine intensité». Comment interpréter cette disposition? Faut-il en déduire que la violence «à faible dose» est acceptable? Comment définir précisément les violences psychiques? Elles peuvent prendre la forme d’insultes, d’injures, d’un contrôle constant, de surveillance, de stalking, ou encore de gaslighting: l’agresseur minimise une situation et décrédibilise ainsi l’appréciation personnelle de sa victime. L’acte de violence est bien réel, mais en même temps, celui qui agit en parle comme si rien n’était en train de se produire. Dans un tel scénario, la victime a encore plus de mal à solliciter de l’aide parce qu’elle doute de son propre jugement. Les violences psychiques sont souvent invisibles de l’extérieur, même si elles sont lourdes de conséquences pour les victimes. Que peut faire une femme qui y est confrontée? Toujours commencer par s’adresser à un centre d’aide aux victimes. Il en existe dans tous les cantons. Souvent, il est possible de demander conseil par téléphone ou en ligne (chat). A Berne, AppELLE, la hotline des foyers d’accueil pour femmes, est joignable 24 heures sur 24. Que faire pour briser le cercle vicieux de la violence? Il faudrait travailler avec les victimes mais, surtout en cas de violences genrées, avec les auteurs de l’agression pour modifier leurs stéréotypes. Les violences sont dites genrées lorsque le genre et l’inégalité en raison du genre jouent un rôle dans la perpétration de la violence. En l’occurrence, nous nous concentrons sur les femmes, car dans la très grande majorité des cas, les agresseurs sont des hommes. Evidemment, les hommes subissent aussi des violences, mais notre campagne ne couvre pas ce sujet. Du point de vue statistique, les femmes sont clairement les plus touchées. Et la violence psychique, est-elle très fréquente? En Europe, plus de 40 % des femmes en sont victimes. Malheureusement, pour la Suisse, nous ne disposons pas de chiffres précis. Il faudrait absolument obtenir des financements pour mener les études nécessaires à l’établissement de ces chiffres. En effet, il est difficile de réaliser un travail de prévention sans chiffres fiables. Et les autorités, que devraient-elles faire de plus pour améliorer la situation? La convention d’Istanbul, entrée en vigueur en Suisse en 2018, a marqué une étape importante. Ce texte indique de manière très complète comment combattre les violences genrées; il évoque la prévention, l’aide, la protection, le travail auprès des agresseurs, les moyens financiers et les aspects juridiques. Lorsque la Suisse, qui est tenue de mettre en œuvre cette convention, aura pris toutes les mesures préconisées, nous serons sur la bonne voie. Cependant, le fédéralisme propre à la Suisse a ses faiblesses puisqu’il implique des différences de pratique entre les cantons. Ainsi, les mesures en faveur des victimes ou les modalités de soutien varient selon le lieu de résidence, ce qui ne devrait pas être le cas. Il faudrait tout faire pour que les centres d’accueil existent partout en nombre suffisant dans le pays et que les ressources financières nécessaires soient disponibles.
14 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 Alle denken, Gewalt existiert, doch nicht im eigenen Umfeld. Die Wahrheit ist jedoch: Gewalt gibt es überall und sie kann alle treffen. Was bedeutet das? Was tun, wenn ein Verdacht besteht oder jemand selbst übergriffig geworden ist? Wie kann eine Gemeinschaft mit geschlechtsspezifischer Gewalt in der eigenen Kirchgemeinde umgehen? Von Veronika Henschel* und Gabriella Weber** Geschlechtsspezifische Gewalt kennt viele Formen und Facetten. Sie findet überall statt: in der Öffentlichkeit, im Arbeitskontext, in Familien, in Freundschaften oder Partnerschaften oder auch dort, wo wir unsere Freizeit verbringen. Sie kann in allen Schichten passieren – unabhängig von Bildung, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit, Einkommen und Alter. Das Ausüben von Kontrolle und Macht spielt eine grosse Rolle, und nicht selten zielt geschlechtsspezifische Gewalt auf Gedanken und Gefühle, Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl ab. Im Folgenden werden einige Orientierungspunkte für den Umgang mit der Thematik geschlechtsspezifischer Gewalt in Kirchgemeinden aufgeführt. Die Liste ist nicht abschliessend und soll eine Orientierungshilfe bieten, um eigene Gedanken weiterzuentwickeln und gemeinsam ins Gespräch zu kommen. Vulnerable Gruppen Besonders verletzliche Personen bedürfen mehr Aufmerksamkeit im Umgang mit Themen wie geschlechtsspezifischer Gewalt. Es ist wichtig, diese Themen zu identifizieren und angemessen anzusprechen. Zu besonders vulnerablen Gruppen können zum Beispiel Kinder und Jugendliche, ältere oder pflegebedürftige Menschen und Menschen mit Migrationserfahrung gehören. Dabei ist zu beachten, dass sich verschiedene Diskriminierungsformen überschneiden und gegenseitig verstärken können (Intersektionalität). So können beispielsweise Menschen mit Migrationserfahrung nicht nur von geschlechtsspezifischer Gewalt, sondern zugleich auch von Rassismus betroffen sein. Prävention Mit Prävention werden sich nie alle Übergriffe vermeiden lassen. Prävention kann aber die Schwelle höher setzen, überhaupt Gewalt auszuüben. ORIENTIERUNG FÜR KIRCHGEMEINDEN Was tun bei Gewalt Ausserdem wissen Betroffene und andere involvierte Personen eher Bescheid, wie mit einer konkreten Situation umzugehen ist. Präventionsarbeit kann auf vielfältige Art geleistet werden: Richtlinien, Austauschräume oder Sensibilisierung von Fachpersonen und Freiwilligen. Unterstützung bieten können auch diverse Fachstellen (s. Infobox). Es lohnt sich, die Präventionsarbeit heute anzufangen und nicht auf einen konkreten Vorfall zu warten. Fachpersonen involvieren Manchmal fällt dieser Punkt schwer – man will doch selbst Fachperson sein, oder man weiss nicht, wohin genau man sich wenden kann. Vielleicht erscheint ein Vorfall auch als zu klein, man ist sich nicht ganz sicher, ob auch wirklich Gewalt ausgeübt wurde. Fachpersonen sind genau für alle diese Fälle da. Opferhilfeberatungsstellen, Frauenhäuser, Polizei, Ärztinnen, Sozialdienste und spezialisierte Rechtsanwältinnen haben die Zusammenarbeit und Vernetzung in den letzten Jahren verstärkt, damit Betroffenen rasch und effektiv geholfen werden kann.1 Eine ausführliche Liste mit Kontakten ist unter dem Link in der Infobox zu finden. Gegen geschlechtsspezifische Gewalt Geschlechtsspezifische Gewalt ist auch in der Schweiz eine häufige und oft verdrängte Tatsache. Deshalb setzen die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn ein Zeichen und verbinden zwei wichtige Kampagnen gegen Gewalt: «Donnerstags in Schwarz» und «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn ist es ein Anliegen, dass sich die Kirche mit den Betroffenen solidarisiert, sich für ihre Rechte starkmacht und präventiv aktiv ist. Unter untenstehendem QR-Code finden Sie Informationen zu den Kampagnen sowie Kontakte zu Opferberatungsstellen.
15 ENSEMBLE 2023/71 —– Dossier Verantwortung übernehmen Wir alle sind aufgefordert, bei Gewaltsituationen hinzuschauen und Unterstützung anzubieten. Nicht immer können oder wollen Betroffene Übergriffe anzeigen, ausserdem kann die ergänzende Unterstützung durch das soziale Netz neben staatlichen Massnahmen hilfreich sein. Als Gemeinschaft und in unserem Umfeld wie Freundeskreis, Nachbarschaft, Kirchgemeinde können wir Folgendes tun: − Der betroffenen Person Hilfe und Unterstützung anbieten: Betroffene werden so gehört und gestärkt und können auf Beratungsangebote und Fachstellen hingewiesen werden. Die Unterstützung richtet sich nach den Bedürfnissen der Betroffenen, ihre Selbstbestimmung wird respektiert. − Übergriffige Personen auf dem Weg zur Verantwortungsübernahme begleiten und motivieren, damit sie ihr Verhalten überdenken und ändern. − Kollektive Verantwortungsübernahme: Gewalt ist kein individuelles Problem, sie geht uns alle etwas an. Wo die Möglichkeit besteht, Gewalt auszuüben, gibt es strukturelle Probleme. Kollektive Verantwortungsübernahme heisst, dass wir neben unserer individuellen Verantwortung auch unsere Verantwortung als Gruppe, als Gemeinschaft ernst nehmen und aktiv gestalten. Nur so können wir zu echter und nachhaltiger Veränderung kommen. Thematisieren «Bei uns hat Gewalt keinen Platz.» – Sehen wir unsere Arbeit mit einem solchen Satz als getan an, machen wir es uns zu einfach. Es ist unangenehm. Es ist komplex. Es ist anspruchsvoll. Aber obwohl Gewalt vielleicht keinen Platz bei uns hat, «nimmt» sie sich ihn. Gewalt existiert in unseren Strukturen, auch und gerade wenn wir nicht darüber sprechen. Deshalb: Warten wir nicht auf eine grosse Krise, sondern machen wir Gewalt und unseren Umgang damit heute noch zum Thema. Für unser aller Wohl. 1 Wenn konkrete Hinweise dafür bestehen, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist, haben Fachpersonen und Personen in amtlicher Tätigkeit unter Vorbehalt des Berufsgeheimnisses eine Meldepflicht an die KESB (Art. 314d ZGB). * Projektleitung Zukunft Jugendarbeit ** Beauftragte Ehe, Partnerschaft, Familie © Pixabay Bei Gewalt hinschauen! Regarder en cas de violence!
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