4 Dossier —– ENSEMBLE 2023/71 GESCHLECHTSSPEZIFISCHE GEWALT DAS TABU AUFBRECHEN, EIN ERSTER SCHRITT VIOLENCE DE GENRE BRISER LE TABOU, UN PREMIER PAS Von geschlechtsspezifischer Gewalt zu sprechen – einer Gewalt, von der vor allem Frauen betroffen sind, aber nicht nur – bedeutet, sich mit einem verbreiteten Problem auseinanderzusetzen, das verschiedene Ursachen und Formen aufweist. Sich in dieses allgegenwärtige, aber oft verschleierte Phänomen zu vertiefen, heisst auch, ein Tabu aufzubrechen. Für die Kirchen geht es vor allem darum, der unbedingten Forderung nachzukommen, gegen sämtliche Formen der Gewalt und der Ungerechtigkeit zu kämpfen. Von Maria Vila Die geschlechtsspezifische Gewalt ist ein Sammelbegriff, mit dem sämtliche Gewaltakte bezeichnet werden, die ihren Ursprung in gesellschaftlich konstruierten Unterschieden und Hierarchien zwischen den Geschlechtern haben. Sie bezieht sich auf Geschlechternormen und -stereotype und auf Machtverhältnisse. Sie kann sich äussern in körperlicher, psychologischer oder sexueller Gewalt, aber auch darin, dass der Zugang zu Ressourcen oder Dienstleistungen verweigert wird. Eine unsichtbare Epidemie Diese Gewalt, die in sämtlichen Gesellschaftsschichten und in sämtlichen Ländern dieser Erde vorkommt, wird zu Hause, in Paarbeziehungen, in Familien, am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Ausbildung, im öffentlichen Raum, im Internet und in den sozialen Netzwerken ausgeübt. Trotz ihrer Omnipräsenz und ihrer verheerenden Auswirkungen auf die Personen, Familien und Gemeinschaften in der ganzen Welt bleibt sie ein Tabuthema. Ihr Ausmass wird relativiert, heruntergespielt oder schlicht bestritten. Auch wenn verlässliche Zahlen immer noch fehlen, ist bekannt, dass Frauen und junge Mädchen die mit Abstand häufigsten Opfer sind. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO wird eine von drei Frauen im Verlauf ihres Lebens zu einem Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt. Aber diese Gewalt wird oft nicht sichtbar gemacht, und die Opfer ziehen es in der Regel vor, zu schweigen – aus Angst, stigmatisiert zu werden oder Opfer von weiteren Gewalttaten zu werden. Es ist zwingend, sich zu hinterfragen Es steht ausser Frage, dass die Kirchen angesichts dieser Tragödie aktiv werden müssen. «Unser Glaube ruft uns auf zu Liebe, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Frieden, Würde. Es ist von daher zwingend, dass wir gegen sämtliche Formen von Gewalt und Ungerechtigkeit beten und handeln», betont Sara Speicher, Kommunikationsbeauftragte beim Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK). Gemäss Barbara Heer, Leiterin der Stabsstelle Frauen und Gender bei «Mission 21», ist es wichtig, im Hinblick auf das Handeln nach den Ursachen zu forschen. Zu diesen zu rechnen sind etwa die strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern oder die wirtschaftliche Unsicherheit, in der Frauen leben, vor allem aber die Stereotype, die das Männliche in Verbindung bringen mit Dominanz und der Ausübung von Macht und Gewalt. «Die Religion ist eine wichtige Ressource, die missbräuchlich zur Unterdrückung eingesetzt wird. Man bedient sich der Bibel, um die Unterlegenheit von Frauen zu rechtfertigen. Kirchen verfügen über einen besonderen Einfluss. Deshalb
RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=