ENSEMBLE Nr. / N° 72 - Dezember / Décembre 2023

5 ENSEMBLE 2023/72 —– Dossier Religion kommt aus dem, was man auf dem Herzen hat. La religion vient de ce que l’on a en tête. aus dem ergibt, was Menschen auf dem Herzen haben, dann wird Religion sehr schnell plausibel. Die symbolische Deutung von Existenzfragen in einem übergeordneten Rahmen ist genau das, was Religion leistet. Können Sie ein Beispiel einer solchen Methode nennen? In der Grundschule kann man die alten Geschichten so erzählen, wie sie sind, weil die Kinder noch ein mythologisches Bewusstsein haben. Aber spätestens ab der 3. oder 4. Klasse, wenn die Rationalität stärker wird, muss man Lebensfragen ins Zentrum stellen. Eine entsprechende Methode stammt von Gundula Rosenow, einer Religionspädagogin aus Norddeutschland: Man bittet die Schüler und Schülerinnen, anonym und am besten zu Hause, ein Ereignis aufzuschreiben, das sie im letzten Jahr sehr bewegt hat oder vielleicht sogar das Bewegendste ihres Lebens war. Die Erfahrung zeigt, dass alle mitmachen. Es ist beeindruckend, wie gross die Bereitschaft ist, solche Dinge auch mit anderen zu teilen. Das Entscheidende ist, dass man dann symbolisch einkleidet, was die Schülerinnen und Schüler bewegt. Dass man dies in einen grösseren Zusammenhang setzt? Genau. Der eigentliche Aha-Moment ereignet sich dann, wenn man solche Erfahrungen auf biblische oder christliche Traditionen zurückspiegelt. Nehmen wir als Beispiel das Thema Ohnmacht oder Beschämung. Alle wissen, wie sich das anfühlt. Und dann erzählt man eine passende Geschichte aus der Bibel dazu, zum Beispiel die Geschichte von Jona. Da hat einer eine Beschämungserfahrung, weil er seine Pflicht nicht erfüllt und nicht tut, was er eigentlich sollte. Wenn man diese Erfahrung wirklich zum Thema macht, und dann erst den Hinweis gibt, dass es diese Deutung von der Geschichte gibt, merken die Schülerinnen und Schüler, dass diese alte Geschichte etwas mit ihnen zu tun hat und eigentlich ziemlich aktuell ist. Geht es also darum, die Schülerinnen und Schüler in ihrer eigenen Lebenswelt abzuholen? So ist es. Zugespitzt kann man sagen: Die Lernenden selbst sind der Inhalt dieser Religionspädagogik. Im Grunde hat die Subjektorientierung, wenn man sie wirklich wörtlich nimmt, daher zwei Ziele. Zum einen nimmt sie die Menschen ernst. Und ich behaupte, Religionsunterricht ist das einzige Fach in der Schule, das dies tut. Der andere Punkt ist, dass Religion auf diese Weise plötzlich plausibel wird. Das gelingt, wenn man vermitteln kann, dass Religion kein altes Märchen, keine überholte alte Geschichte oder keine lebensfremde Mythologie ist. Vielmehr kommt Religion direkt aus dem, was man selbst auf dem Herzen hat. Religion muss also erfahrbar gemacht werden. Ja, so ist es. Und es kommt dann natürlich immer die kritische Rückfrage von Religionspädagogen, wo da denn «die Inhalte bleiben». Aber ich würde sagen, Religion hat gar keine Inhalte, weil Religion ein tiefes Erleben ist. Die «Inhalte», die da reklamiert werden, also die religiösen Traditionen, die Bibeltexte oder die Glaubenslehren, haben natürlich ihre Berechtigung und sind ebenfalls unverzichtbar. Sie sind aber Niederschläge früherer religiöser Erfahrungen und nicht mehr die Sache selbst. Denn es geht um die Menschen mit ihren Grunderfahrungen. Welche Rolle spielen dann die religiösen Traditionen? Sie geben zum einen eine religiöse Identität vor. Das allein macht sie sehr wertvoll. Die Christen und Christinnen haben eine bestimmte Tradition, eine bestimmte Art, mit Lebensfragen umzugehen. Zum anderen sind sie ein beeindruckendes Reservoir für gelungene Lebensdeutungen. Man sollte also nicht (oder besser: nicht nur) alte Traditionen lehren, sondern zeigen, es selbst so zu machen, wie es diese Traditionen vormachen. © Mauro Mellone

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjc3MzQ=