6 Dossier —– ENSEMBLE 2023/72 Wo steht denn die Religionspädagogik aktuell? Wie gross ist der Nachholbedarf in Ihren Augen? Der Nachholbedarf ist gar nicht so gross, weil die Subjektorientierung eigentlich sehr stark rezipiert wird. Allerdings bleibt man meistens bei der Erkenntnis stehen, dass man beim Unterricht die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler «berücksichtigen» sollte. Aber das ist zu wenig. Man weiss, dass man sich eigentlich zentral an den Subjekten orientieren sollte, aber niemand getraut sich so richtig, diesen Schritt auch wirklich zu machen. Da fehlt ein «Ruck in den Köpfen», wie das mein Lehrer Matthias Kroeger einmal gesagt hat. Ist man dann gefangen in der eigenen Tradition? So kann man es sagen. Religion ist ein flüchtiges Phänomen, das sich immer wieder neu ergeben muss und das sich in den religiösen Traditionen und Glaubenslehren nur sehr unzureichend spiegelt, manchmal gar nicht. Die sind, wie gesagt, Niederschläge religiöser Erfahrungen oder symbolischer Lebensdeutung, aber nicht Religion selbst. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, subjektorientierte Religionspädagogik hat ihr Ziel dann erreicht, wenn Schülerinnen und Schüler Religion begründet ablehnen. Das ist eine sehr provokative Aussage. Ja, aber das müsste begründet sein. Und das setzt voraus, dass man Religion verstanden hat. Man kann davon ausgehen, dass eine solche Ablehnung extrem unwahrscheinlich ist, wenn wirklich verstanden wurde, was Religion eigentlich will. Und auf der anderen Seite würde die begründete Annahme stehen? Ja, so ist es. Das Ziel eines guten religiösen Lernens kann nicht sein, die Tradition zu kennen. Das Ziel sollte eine Selbstklärung sein, eine Klärung der eigenen Religiosität. Wenn man religiöse Bildung wirklich ernst nimmt, dann kann gar nichts anderes gemeint sein als die Selbstbildung von religiösen Individuen. Subjektorientierung hat zum Ziel, dass Menschen sich selbst als religiös verstehen oder zumindest eine religiöse Positionierung erreichen. Was bräuchte es, damit das öfter passiert? Ein bisschen mehr Mut, etwas spielerischer mit der eigenen Religion umzugehen. Und nicht zu meinen, man müsse jede Glaubenslehre unterschreiben. Religion neigt leider sehr stark zum Konservativismus. Das ist auch nachvollziehbar, denn es geht um wichtige Dinge, mit denen man nicht leichtfertig umgeht. Etwas plakativ gesagt müssen wir weg von Paulus, von Sünde, Gnade, Erlösung und Gesetzesdenken und wieder mehr hin zu Jesus, der sehr viel elementarer religiös denkt und der übrigens auch extrem religionskritisch war – d.h. kritisch gegen religiöse Fixierungen. Geht es auch darum, ein anderes Gottesbild zu vermitteln? Ja, das hängt dann an diesem Konzept mit dran. Wenn man vom Gottesbild von Schülerinnen und Schülern ausgeht, dann kann man eigentlich sagen, dass es praktisch nirgendwo mehr ein personales Gottesbild gibt. Es gibt inzwischen sogar Theologen, die nicht mehr von Gott, sondern vom «Göttlichen» sprechen. Das ist eine sehr kluge Entwicklung, weil man damit zugibt, dass man über diesen Gott nicht so genau Bescheid weiss. Und wenn man Schülerinnen und Schüler mit der Gottesfrage erreichen will, dann erreicht man sie viel besser über einen gewissen Umweg, indem man Religion so inszeniert, wie ich es beschrieben habe. Braucht es auch eine andere Didaktik? Ja, aber es soll jetzt nicht das Vorurteil entstehen, dass man in jeder Unterrichtsstunde Existenzthemen durchhecheln müsste. Das sind eher Ausnahmestunden, die aufzeigen, wie Religion funktioniert. Dass Religion nämlich unmittelbar mit den eigenen Erfahrungen zu tun hat. Wenn Schüler das einmal verstanden haben, dann kann man durchaus auch Stoffe der religiösen Tradition unterrichten. Man kann also eine biblische Erzählung durchaus als Lerninhalt bringen, müsste aber eingehend auf die Erfahrungen eingehen, die hinter diesem Text stehen. Dann spricht dieser Text wieder. Was ist Bildung? Religionspädagogische Fachtagung mit Joachim Kunstmann Donnerstag, 21. März 2024, 9–15.30 Uhr Fachstelle Religionspädagogik, Zähringerstrasse 25, 3012 Bern An der religionspädagogischen Fachtagung zeigt Joachim Kunstmann auf, wie er religiöse Bildung versteht. Gemeinsam soll anschliessend herausgefunden werden, was das alles für den Kontext religionspädagogischen Handelns am Lernort Kirche heissen könnte. Joachim Kunstmann ist Religionspädagoge an der Pädagogischen Hochschule Weingarten. Seine Hauptthemen sind Religionspädagogik und religiöse Bildung, Religionsphilosophie, -soziologie und -psychologie mit einem Schwerpunkt auf der gegenwärtigen Lage des Christentums. Gemeinsam mit Gundula Rosenow hat er das Konzept einer subjektorientierten Religionspädagogik entwickelt.
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