ENSEMBLE Nr. / N° 74 - Juni / Juin 2024

10 Fokus —– ENSEMBLE 2024/74 NEUE PUBLIKATION KIRCHE SEIN IN EINER PLURALISTISCHEN GESELLSCHAFT Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger, auch religiös. Die Kirchen kommen nicht darum herum, sich zu dieser Tatsache zu verhalten. Ein neues Papier der reformierten Landeskirche bietet dazu Orientierungshilfen. Von Matthias Zeindler* Zu den wichtigsten Transformationen der heutigen europäischen Gesellschaft gehört die immer deutlicher erfahrbare religiöse und weltanschauliche Pluralität. Längst leben Angehörige aller Weltreligionen unter uns. Andere praktizieren ihre Spiritualität ausserhalb einer religiösen Gemeinschaft, und immer mehr Menschen verstehen sich nicht mehr als religiös. Die Kirchen kommen nicht darum herum, zu prüfen, was das Nebeneinander und Miteinander solch unterschiedlicher Perspektiven für ihre Verkündigung, ihr Handeln und ihr Selbstverständnis bedeutet. Nun hat der Synodalrat einen längeren Text publiziert, mit dem er dem Nachdenken der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn über ihre Einstellungen zur multireligiösen Gesellschaft dienen möchte. Er steht unter dem Titel «Christlicher Glaube und Pluralität in reformierter Perspektive». Primäre Adressatinnen und Adressaten sind die Mitglieder der Kirche, namentlich ihre Mitarbeitenden sowie die Ehrenamtlichen und Freiwilligen. Der Text ist aber auch für interessierte Partnerinnen und Partner ausserhalb unserer Kirche gedacht. Ihnen soll Rechenschaft darüber gegeben werden, wie die Reformierten in unserem Kirchengebiet sich im Verhältnis zu Menschen anderen Glaubens und mit anderen Weltanschauungen verstehen. Beide Intentionen des Papiers haben das Ziel, ein bewussteres und positiveres Zusammen- und Miteinanderleben reformierter Christenmenschen mit Menschen und Gruppierungen mit anderen religiösen, aber auch nichtreligiösen Haltungen zu ermöglichen. Biblische und reformierte Vielfalt Das Papier beginnt mit der Beobachtung, dass die Bibel selbst eine grosse innere Vielfalt aufweist. Dies überrascht nicht, stammen doch die biblischen Bücher aus einem Zeitraum von rund tausend Jahren. Der Kanon von Altem und Neuem Testament kann deshalb dazu ermutigen, Vielfalt und Unterschiede zwischen den Kirchen nicht per se als negativ und als Zeichen das Abfalls von einem ursprünglichen Christsein zu sehen. Ein uniformes Christsein hat es nie gegeben. Sehr wohl ist aber auch der leitende Gedanke des Einssein schon in den frühesten Kirchen deutlich präsent. Auch die reformierten Kirchen waren von Anfang an geprägt von einem hohen Grad innerer Pluralität. Die Vielfalt von christlichen Glaubensformen steht gemäss reformiertem Verständnis nicht im Gegensatz zur kirchlichen Einheit, sondern ist als deren konkrete Form zu verstehen: Einheit gibt es nur als Einheit in Vielfalt. Die verschiedenen Glaubensformen sind aber nur dann eine Form der Einheit, wenn sie nicht in einem indifferenten Nebeneinander koexistieren, sondern in einem ständigen Diskurs über die biblische Wahrheit stehen. Vielfalt der Religionen Von dieser Grundlage aus werden in dem Text eine Reihe weiterer Themen reflektiert. So hält das Papier fest, dass Ökumene eine Grundaufgabe der Kirchen bleibt, weil eine gespaltene Kirche ihre Friedensbotschaft nicht glaubwürdig vertreten kann. Gleichzeitig wird gesagt, dass Ökumene auch bedeutet, die höchst unterschiedlichen Arten, den Glauben zu leben, in den Kirchen besonders im Weltsüden zur Kenntnis zu nehmen. Ungewöhnlich weit geht das Papier im Nachdenken über das Verhältnis des christlichen Glaubens zu anderen Religionen. Weder werden

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