ENSEMBLE Nr. / N° 75 - September / Septembre 2024

15 ENSEMBLE 2024/75 —– Dossier «LEBENDIG BIS ZUM LETZTEN ATEMZUG» Sonia Flotron ist Mitglied des mobilen PalliativeCare-Teams im Berner Jura und kann auf eine lange Erfahrung in diesem Bereich zurückblicken. Die Pflegefachfrau, die vor kurzem in den Ruhestand getreten ist, hat für den Ausbau der Palliativpflege in der Schweiz gekämpft. Ein Gespräch. Von Nathalie Ogi Worin besteht Ihre Arbeit? Ich habe lange in der Spitex und der Palliativpflege zu Hause gearbeitet, bevor ich in der Aussenstelle Berner Jura zum mobilen Team Palliative Care (MTPC BEJUNE) stiess. Ich war an den Überlegungen zur Organisation des Teams in der Region BEJUNE (Bern, Jura, Neuenburg) beteiligt. Wir beraten Berufsangehörige aus dem Gesundheitswesen mit dem Ziel, die Situation der Patientinnen und Patienten zu Hause, im Alters- und Pflegeheim oder im Spital zu verbessern. Mit welchen Problemen hat die Palliativpflege zu kämpfen? Was die Patientinnen und Patienten betrifft, so besteht die grösste Herausforderung in der Behandlung von Schmerzen und Atemproblemen. Ein weiteres Problem ist es, abschätzen zu können, wie lange jemand zu Hause bleiben kann. Gegenwärtig stellt uns auch der Mangel an diplomiertem Fachpersonal – sowohl in Alters- und Pflegeheimen als auch im Spital – vor grosse Probleme. Die Personaldecke ist zu dünn, die Angestellten sind unter Druck und können die einzelnen Situationen nicht mehr zeitnah einschätzen. Oft nehmen sie uns zu spät in Anspruch. Ein weiteres Problem sind die falschen Vorstellungen, die bei der breiten Bevölkerung bezüglich Palliativpflege kursieren. Palliativpflege bedeutet nicht, dass der Tod unmittelbar bevorsteht. Wir müssen dafür kämpfen, dies den Patientinnen und Patienten klarzumachen. Die meisten Menschen sind erstaunt, wenn man ihnen die Frage nach der eigenen Endlichkeit stellt. D Was hat Sie dazu bewogen, in der Palliativpflege zu arbeiten? Wegen der Art und Weise, wie man im Spital mit dem Tod umging, hätte ich in den 80er-Jahren als junge Pflegende beinahe den Beruf an den Nagel gehängt. Damals wurde das Lebensende in der Regel als Niederlage angesehen. Oft flohen wir vor den unheilbar Kranken, weil wir nicht wussten, wie wir mit ihnen umgehen sollten. Das drückte stark auf die Moral. In der Palliativpflege betrachten wir eine ernsthaft erkrankte, sterbende Person bis zum letzten Atemzug als lebendig. Sie verdient es, dass man sich um sie kümmert, ihre Lebensqualität verbessert und nicht vor der Situation davonrennt. Das ist der menschliche Aspekt des Berufs. Man fühlt sich nutzlos, wenn man sich ausschliesslich auf Heilung respektive künstliche Lebensverlängerung konzentriert und die Endlichkeit des Menschen nicht akzeptiert. Was gefällt Ihnen am besten? Wenn man «an der Front» arbeitet, bei den Patientinnen und Patienten, bildet sich eine privilegierte Vertrauensbeziehung heraus. Ich liebe diese direkte Begleitung von Person zu Person. Natürlich muss man immer professionell bleiben und das richtige Mass von Distanz und Nähe wahren. Man erlebt aber doch unglaubliche und tiefe Momente. Es kann vorkommen, dass man mit den Patienten und ihren Angehörigen weint und lacht. Wenn man darüber hinaus noch die Lebensqualität der kranken Person verbessern kann, hat man alles richtig gemacht. Ich persönlich schätze aufgrund meiner Tätigkeit das Leben als solches noch mehr. Carpe diem erhält seinen umfassenden Sinn. Sie haben sich stark engagiert für die Anerkennung der Palliativpflege. Diese Anerkennung liess seit den 90er-Jahren, als erste Forderungen an die Politik gestellt wurden, lange auf sich warten. Wir forderten, dass die Palliativpflege in der Schweiz entwickelt und ausgebaut wird. Es dauerte ganze zwanzig Jahre, bis sich ein entsprechendes Bewusstsein bildete. Ich hatte immer das Gefühlt, man dürfe Patientinnen und Patienten mit unheilbaren Krankheiten nicht einfach fallen lassen. Das ist einer Gesellschaft in Friedenszeiten einfach nicht würdig. Vous vous êtes beaucoup engagée pour la reconnaissance des soins palliatifs. Cette reconnaissance s’est faite attendre depuis les années 90, lorsque les premières revendications ont été envoyées au monde politique. Nous demandions que les soins palliatifs se développent en Suisse. Il a fallu attendre 20 ans pour qu’une prise de conscience ait lieu. J’ai toujours eu le sentiment que l’on ne pouvait pas laisser tomber les patient-e-s avec un diagnostic de maladie incurable. Cela n’est pas digne d’une société en temps de paix.

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