ENSEMBLE Nr. / N° 76 - Dezember / Décembre 2024

10 Fokus —– ENSEMBLE 2024/76 INTERVIEW «EINE VOLKSKIRCHE VERFÜGT ÜBER INNERE VIELFALT» Matthias Zeindler leitete bei den gesamtkirchlichen Diensten im Haus der Kirche seit 2010 den Bereich Theologie. Zudem war er Titularprofessor für Systematische Theologie an der Universität Bern. Ende November ist er mit einem Jahr Verzögerung in den Ruhestand getreten. Ein Rückblick auf sein vielfältiges Engagement. Von Markus Dütschler * Sie haben sich nicht nur in Uni-Kreisen bewegt, sondern waren Gemeindepfarrer in Gerlafingen und Erlach. Inwiefern kommt man in einer Kirchgemeinde als Theologieprofessor auf die Welt? Matthias Zeindler: Bei mir war es eher umgekehrt. Ich wollte immer ins Pfarramt und war auch zuerst Pfarrer. Eine akademische Karriere plante ich nicht. Nachdem ich meinen Doktor gemacht und einige Jahre als Pfarrer gearbeitet hatte, hatte ich das Bedürfnis, nochmals ein wissenschaftliches Buch schreiben. Nach Erlangen der Habilitation hatte ich dann eine Lehrverpflichtung an der Universität in Systematischer Theologie. Ich empfand Uni und Gemeindepfarramt nie als Gegensatz. Die akademische Theologie hat mir im Beruf sehr geholfen. In Gerlafingen wohnten viele Stahlarbeiter, in Erlach besuchten vor allem Landwirte und Gewerbler den Gottesdienst. Immer wieder wurde mir gesagt, das Schöne bei mir sei, dass man mich so gut verstehe. In Erlach haben Sie die Stelle mit Ihrer Ehefrau geteilt. Welche Voraussetzungen braucht es, damit ein solches Jobsharing funktioniert? Wir haben die Arbeitsbereiche sauber abgetrennt, so konnten beide ihre Arbeit so gestalten, wie es ihnen entsprach. Auch die Familienarbeit mit den beiden Kindern und die Tätigkeiten in Haushalt und Garten haben wir aufgeteilt. Das Engagement an der Uni fand in meiner Freizeit statt. Oft hört man, es gebe eine Kluft zwischen der hehren Theorie und der handfesten Praxis. Im Pfarramt vergesse man gescheiter, was man an der Uni gelernt hat. Mein Gebiet ist die Systematische Theologie. Diese versucht zu formulieren, was christlicher Glaube heute bedeutet. Dies setzt einen engen Bezug zum Leben voraus. Ich empfand diesen angeblichen Graben nie. Sehr gerne habe ich Vorträge in Kirchgemeinden gehalten. Das zwingt einen, auch komplexe Dinge klar und einfach zu formulieren. Ein Vortrag ist keine Predigt und eine Predigt keine Vorlesung. Wie unterscheiden sie sich? In der Tat soll man in einer Predigt keine Stellen aus irgendeinem Bibelkommentar zitieren oder auf Unterschiede bei Quellenfunden eingehen. Als Theologe will ich biblische Themen ins heutige Leben übersetzen. Predigten sollen anspruchsvoll sein, aber auch verständlich. Nicht weniger problematisch sind freilich triviale Predigten, in denen man nichts anderes hört als das, was in der Zeitung zu lesen ist. Einige Studierende hoffen, dass sie durch das Theologiestudium ihren Glauben vertiefen können. Andere verlieren sämtliche Gewissheiten, die sie vorher hatten. Wie war das bei Ihnen? Mir hat das Studium enorm geholfen, meinen Glauben zu vertiefen, gerade auch der kritische Zugang zur Bibel und zur Kirche. Dabei werden Gewissheiten erschüttert, ja, aber das ist nichts Schlechtes. Auch der Dichter in Psalm 23 wandelt «im finsteren Tal», ist sich aber gewiss, dass ihn Gott nicht verlässt. Die Vielfalt der Bibel erzeugt Erschütterungen und Zweifel, aber das gehört zum Glauben. Das macht einen vielleicht weniger anfällig für die grosse Glaubenskrise. Eine solche hatte ich offen gestanden nie. Wer Theologie studiert, kann sich ähnlich wie Phil.-hist.-Leute für verschiedenste Berufe bewer-

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