12 Fokus —– ENSEMBLE 2024/76 Standpunkte vertrete und sich nicht allein sozial betätige. Eine weitere NGO brauche niemand. Dem pflichte ich ihm vollkommen bei. Deshalb finde ich es auch richtig, dass in den Legislaturzielen des Synodalrats explizit steht: «Gott zur Sprache bringen». Es reicht heute nicht mehr, dies stillschweigend als gegeben zu betrachten. Viele Menschen erwarten dieses Profil, seien sie fromm oder säkular. Ich weiss, dass es bürgerliche Politiker gibt, die für eine harte Asylpolitik eintreten, es aber trotzdem gutheissen, wenn sich die Kirchen in der Flüchtlingshilfe engagieren. Denn es sei die Aufgabe der Kirche, sich für Menschen in Not einzusetzen. Ökumene ist heutzutage Standard. Besteht nicht auch hier die Gefahr, dass die einzelnen Kirchen an Profil einbüssen? Wir Reformierte fragen uns immer wieder, was reformiert sein bedeutet. Ähnliche Fragen treiben im Grunde jede Kirche um. Wie profiliert und klar soll eine Kirche sein, wie breit muss sie als Volkskirche aufgestellt sein? Wie geht sie mit Distanzierten um, wie stark stellt sie sich hinter die Engagierten? Diese Spannungen müssen stets von Neuem ausbalanciert werden. Die Ökumene ist eine wertvolle Errungenschaft, früher wollten Reformierte und Katholiken nichts miteinander zu tun haben. Doch die Lage ist heute wieder eine ganz andere: Wir stehen nicht mehr nur mit anderen christlichen Kirchen im Dialog, sondern auch mit anderen Religionen. Neben dem ökumenischen gibt es auch den interreligiösen Dialog. Die Haltung der Landeskirche dazu hat der Synodalrat kürzlich in der Broschüre «Christlicher Glaube und Pluralität in reformierter Perspektive» festgehalten. Der Begriff Volkskirche ist nur noch bedingt anwendbar. Ein Buch, bei dem Sie mitgewirkt haben, trägt den Titel «Ekklesiologie der Volkskirche». Wie lange ist eine Kirche eine Volkskirche, wenn sie ständig Mitglieder verliert? Volkskirche sollte man qualitativ und nicht quantitativ definieren. Eine Volkskirche ist nicht nur innenbezogen, sondern auf die gesamte Gesellschaft. Sie verfügt über eine innere Vielfalt, die unterschiedliche Grade von Nähe und Distanz ermöglicht. In der Kirchenverfassung heisst es, dass die Kirche «allem Volk die Frohe Botschaft» verkündigen soll. Zwar ist nicht mehr «alles Volk» Mitglied, bleibt aber Adressat. Auch als Minderheit behalten wir die Gesellschaft im Blick. Wo steht die Volkskirche in zehn oder zwanzig Jahren? Ist sie mausetot? Oder wird sie eine Erweckung erleben, um diesen religionsgeschichtlichen Begriff zu verwenden? Vermutlich trifft weder das eine noch das andere ein. Die Vitalität einer Kirche ist übrigens nicht kausal mit einer bestimmten Organisationsform verknüpft. Es gibt sehr vitale staatsnahe Kirchen und verknöcherte Freikirchen – und umgekehrt. Schmerzhafte Transformationsprozesse wird es bestimmt geben. Aber die Kirche wird nicht untergehen, solange es Menschen gibt, die das Evangelium weitergeben und Gottesdienst feiern wollen. Im Haus der Kirche findet eine Reorganisation statt. Einen selbständigen Bereich Theologie wird es nicht mehr geben, auch keine Stabsstelle. Bekommt die Theologie in der neuen Struktur ausreichend Platz? Auch künftig wird es eine eigene Stelle geben, an der theologische Arbeit geleistet wird. Diese Stelle im neu formierten Fokus Kirche wird sogar prozentual aufgewertet. Die Theologie bekommt also auch in Zukunft einen wichtigen Platz. Sie haben Ihren Posten per Ende November verlassen. Welchen Rat gaben Sie dem Haus der Kirche mit auf den Weg? Ich gebe keine guten Ratschläge. Sehr wichtig ist mir ein Abschnitt in unseren Visionsleitsätzen: «auf Gottes Zukunft setzen». Es gibt zwar Gründe, sich zu sorgen, aber deswegen soll die Kirche nicht in blinden Aktionismus verfallen. Gefragt sind vielmehr Vertrauen auf den lebendigen Gott und eine getroste Gelassenheit. Die Zukunft der Kirche liegt zum Glück nicht in unserer Hand. Biografie Der 66-jährige, in Münsingen gebürtige Matthias Zeindler ist mit der Pfarrerin Andrea Figge Zeindler verheiratet. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder. Bis zum Pensionsalter wirkte Zeindler als Titularprofessor für Systematische Theologie an der Universität Bern. Bei den gesamtkirchlichen Diensten im Haus der Kirche leitete er seit 2010 den Bereich Theologie. Ende November ist er mit einem Jahr Verzögerung in den Ruhestand getreten. Zeindler wird laut eigenen Aussagen weder in eine hektische Reisetätigkeit verfallen noch beliebig viele Verpflichtungen annehmen, sondern «im eigenen Tempo» und mit mehr Freiheit leben. Häufiger als bisher will der emeritierte Theologe Theateraufführungen und Konzerte besuchen. Neu erschienen Matthias Zeindler, Sich Gottes Einspruch gefallen lassen. Beiträge zur reformierten Theologie, Theologischer Verlag Zürich, 2024, 378 Seiten, Fr. 44.– * Co-Leiter Kommunikation
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