24 Fokus —– ENSEMBLE 2024/76 Im Gurnigelbad oberhalb von Riggisberg sind Asylsuchende untergebracht, die bereits die erste Phase des Asylverfahrens hinter sich haben. Fernab der Zivilisation hoffen sie hier auf einen positiven Asylentscheid. Zwei junge Männer aus der Türkei erzählen ihre Geschichte. Von Adrian Hauser Der Weg windet sich um die Hügel hoch bis auf über 1000 Meter. Es ist ein nebliger kalter Nachmittag. Der Winter kündigt sich unmissverständlich an. Der Ort hat etwas Verwunschenes, ja gar Mystisches. Und er hat eine Geschichte. In der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts gaben sich hier die Schönen und Reichen die Klinke in die Hand. Die Gäste, nicht selten aus dem Adel, stammten aus ganz Europa und sogar aus Übersee. Nicht zuletzt wegen der nahe gelegenen schwefel- und eisenhaltigen Quellen war das Gurnigelbad ein beliebter Kurort. Das Hauptgebäude wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von der Armee gesprengt. Heute steht nur noch das Nebengebäude des einstigen «Grand Hotels». Im «Wartesaal» Der Glanz von früheren Zeiten ist inzwischen längst verblasst. Heute bietet das etwas heruntergekommene Gebäude Platz für bis zu 200 Asylsuchende. Für diese ist es eine Art Zwischenstation. Sie warten auf den Entscheid über ihr Asylgesuch, haben aber gute Chancen, weil sie die erste Phase des Asylverfahrens schon mal überstanden haben. Wie lange sie hier sind? Das wissen sie nicht. Wo es nach einem Entscheid hingeht, ebenfalls nicht. Entweder sie werden zurück in die Heimat geschickt oder sie dürfen bleiben, wonach erwartet wird, dass sie sich in Gesellschaft und Berufswelt integrieren. Doch das mit der Integration ist ein wenig schwierig hier. Nach Riggisberg sind es etwa 10 Kilometer. Viermal am Tag verkehrt ein reguläres Postauto zwischen Gurnigelbad und Riggisberg. Zwei Mal direkt, zwei Mal über Schwarzenburg. Dann dauert die Reise über zwei Stunden mit einer längeren Wartezeit am Bahnhof Schwarzenburg. Deshalb wurden zusätzliche Extrafahrten eingerichtet und die Asylsuchenden dürfen die Postautos immerhin gratis nutzen. Oder sie lassen sich von Freiwilligen «Es ist nicht einfach, Flüchtling zu sein» chauffieren, die den Asylsuchenden das Leben hier etwas erträglicher machen und auch für Fahrdienste in Notfällen zur Verfügung stehen. Drinnen ist es warm, das Holz der Innenverkleidung versprüht einen gewissen Alpencharme. Zwei Männer um die dreissig aus der Türkei haben sich bereit erklärt, ihre Geschichte zu erzählen. Diese lastet merklich schwer auf ihren Schultern. Rasch wird klar: Sie sind alles andere als freiwillig hier in der Schweiz. Der Entscheid, ihre Heimat zu verlassen, fiel ihnen schwer. Beide liessen ihre Familien mit kleinen Kindern zurück. Kinder und Ehefrauen sind nun weit weg. Aus Angst, dass diesen etwas passieren könnte, wollen die beiden anonym bleiben, denn: «Unsere Regierung ist eine Mafia, überall könnten Spitzel sein», sind sich die beiden einig. Tatsächlich befindet sich das Land nach einem Putschversuch von 2016 faktisch im Ausnahmezustand. 2018 trat zwar eine neue Verfassung in Kraft, doch mit erweiterten Rechten für die Exekutive und insbesondere für den Staatspräsidenten Erdogan hat sich gegenüber dem Ausnahmezustand nichts Wesentliches verändert. Denn dieser regiert das Land mit eiserner Faust. Gemäss Statistik der renommierten Zeitung «The Economist» bewegt sich das Land immer mehr in Richtung eines autoritären Regimes. Und das bekommt vor allem die kritische Zivilbevölkerung zu spüren. Vom Regen in die Traufe So wie die beiden, die hier im Gurnigelbad auf unbestimmte Zeit warten. Beide sind gut ausgebildet, hatten angesehene Jobs, die sie jedoch verloren. Weil sie verdächtigt wurden, gegen das Regime zu sein. Und wer einmal auf der «schwarzen Liste» der Andersdenkenden steht, erhält offiziell keine Arbeit mehr. Denn auch Arbeitgebende müssen befürchten, unter Druck gesetzt zu werden. Doch die beiden Männer haben sich irgendwie durchgeschlagen, arbeiteten im Verborgenen, um ihre Familien über die Runden bringen zu können. Bis der Leidensdruck schliesslich zu gross wurde. Sie sind sich einig: «Es ist nicht einfach, Flüchtling zu sein.» Sie kamen also ein wenig vom Regen in die Traufe. Dies, nachdem sie Tausende von Euro für die Flucht bezahlt haben, wofür sie mehrere Jahre Geld gespart hatten. Sie waren einen ganzen Monat lang unterwegs, um schliesslich hier in der Schweiz zu landen. In einer Schweiz, die sie nicht mit offenen Armen emp-
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