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Dossier —– ENSEMBLE 2016/10
Marianne Lauener aus Frutigen ist profes-
sionelle Pilgerbegleiterin. Sie schätzt dabei
die Gemeinschaft und die Begegnung mit
Menschen. Wer pilgert, kann dabei existen-
ziellen Lebensfragen nachgehen und Kraft für
bevorstehende Veränderungen schöpfen.
Von Thomas Schweizer*
Marianne Lauener, Pilgern ist zu einem Ihrer
Lebensinhalte geworden. Was spricht Sie beim
Pilgern besonders an?
Ich finde es spannend, andere Menschen bes-
ser kennen zu lernen, seien es Menschen, die am
Weg leben, oder Menschen, mit denen ich meh-
rere Tage unterwegs bin. Zum Pilgern zieht es
mich, weil es den Lebensweg abbildet: Wir sind
in der «Fremde» zwischen Geburt und Tod unter-
wegs und dürfen uns in diesem Leben bewähren.
Pilgern bildet existenzielle Elemente dieser Le-
benspilgerschaft ab und arbeitet mit ihr: Aufbre-
chen und ankommen, empfangen und loslassen,
sich anstrengen und sich erholen, Beziehungen
aufbauen und sich verabschieden, Last mittragen
und sich von Hindernissen nicht beirren lassen.
Als Sie ein Kind waren, sprach kaum jemand vom
Pilgern. Heute ist Pilgern zu einem anerkannten
Zweig des naturnahen Tourismus geworden. Wie
erklären Sie sich das?
Pilgern trifft ein Bedürfnis unserer Zeit. Wenn
die Arbeit immer effizienter gestaltet werden
muss, wenn ein Termin den andern jagt, wenn
auch die erwerbsfreie Zeit immer dichter mit Ter-
minen besetzt ist, kann das Bedürfnis nach einer
Auszeit entstehen. Vor allem, wenn sich Verände-
rungen im Leben anbahnen. Hinter dem Aufbruch
zum Pilgern steckt oft eine versteckte Sinnsuche.
Die Berner Jakobsweg-Studie 2008 hat gezeigt, dass
weniger als ein Viertel der Pilgernden kirchlich
verwurzelt sind. Ist es nicht paradox, dass so viele
kirchlich wenig verwurzelte Menschen Zeit für das
Pilgern einsetzen?
Der mittelalterliche Hauptgrund des Pilgerns,
sein eigenes Heil zu verdienen, ist nur noch für
eine kleine Minderheit ein Thema. Aber viele su-
chen nach dem Heil-Sein jetzt und heute. Es sind
oft Beziehungs- und Lebensfragen oder Übergangs-
situationen im Leben, die den Anstoss geben, zu
einer Pilgerreise aufzubrechen. Wenn man irgend-
wo blockiert ist, lockt das Pilgern, weil es hilft,
wieder in Bewegung zu geraten, täglich vorwärts-
zugehen und genug Zeit zu haben, sich mit einem
neuen Lebensziel vertraut zu machen. Unter Pil-
gern gibt es ein geflügeltes Wort: «Einige brechen
auf, um Gott zu suchen. Sie entdecken sich selbst.
Andere brechen auf, um sich selbst zu entdecken.
Sie begegnen nicht selten Spuren Gottes.»
Sie sind Pilgerbegleiterin. Wo liegt der Fokus einer
begleiteten Pilgerreise?
Die Natur und die landschaftliche Schönheit
der Schweizer Pilgerwege inspirieren mich. Oft
gelingt es, via Natursymbole eine Verbindung zum
alltäglichen Leben zu schaffen. Bei einer eindrück-
lichen Baumgruppe etwa gehen wir der Frage
nach: Wo sind meine Wurzeln? In einer Quellen-
landschaft fragen wir uns: Aus welchen Quellen
schöpfe ich Lebenskraft? Auch eine Brücke kann
zur Station werden: In welchen Übergängen stecke
ich im Moment? Was erwartet mich auf der ande-
ren Seite? Sehr wertvoll sind mir auch die Begeg-
«MITEINANDER
UNTERWEGS SEIN
ALS KRAFTQUELLE»
PILGERN ALS LEBENSWEGRITUAL
CHEMINER
ENSEMBLE DONNE DE L’ÉNERGIE
LE PÈLERINAGE, UN RITE SUR LE CHEMIN DE LA VIE
* Beauftragter Tourismus, Gastfreundliche Kirchen und Pilgern