Fokus —– ENSEMBLE 2016/11
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A M B U L A T O R I U M F Ü R F O L T E R - U N D K R I E G S O P F E R
Brennen für die Gerechtigkeit
Eine junge Kurdin hat für ein selbstbe-
stimmtes Leben teuer bezahlt. Schwer trau-
matisiert leidet sie seit ihrem 18. Lebensjahr
körperlich und seelisch. Erst Jahre später
findet sie Hilfe im Ambulatorium für Folter-
und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten
Kreuzes (SRK) in Bern.
Von Tanja Reusser und Saraina Jenni
Wenn Cennet Güneš Kölnisch Wasser riecht, fühlt
sie sich ohnmächtig. Seit dem 24. Oktober 1998
erträgt sie den Duft nicht mehr. Das ist der Tag,
an dem sie ein endgültiges Zeichen setzen wollte
gegen die Ungerechtigkeit. Fast die Hälfte ihres
Lebens lebt sie seither mit den Narben der ver-
suchten Selbstverbrennung. Alles hat sich ver
ändert in ihrem Leben, nur ihr Traum nicht: Die
Kurdin Cennet Güneš will ein selbstbestimmtes
Leben führen und mit ihren eigenen Entscheidun-
gen glücklich werden. Dafür hat sie gebrannt.
Schon als Mädchen.
Aus der Kindheit gerissen
Als Cennet 12 Jahre alt wurde, endete ihre Schul-
zeit abrupt. Die Tradition der kurdischen Bauern-
familie wollte eine
arrangierte Heirat im
Dorf. Ein junges Mäd-
chen – was will das
schon wissen von sei-
nem Leben?
Cennets Vorstel-
lungen vom Leben als
Frau waren jedoch
weitaus konkreter als
ein Teenagertraum.
Aber niemand nahm
sie ernst. Bis sie sich
als 13-Jährige einer
Protestgruppierung
anschloss und ihre Fa-
milie verliess, um für
Freiheit und Frauen-
rechte zu kämpfen.
Mit 14 wurde sie in
einem Gefecht ange-
schossen. Ein Jahr spä-
ter wurde sie verhaf-
tet. Sechs Jahre und
vier Monate Gefängnis
lautete das Urteil. Zu
viel für eine Jugend
liche ohne Hoffnung. Kölnisch Wasser – nur ein
Parfum – niemand schöpft Verdacht. An ein Feu-
erzeug zu gelangen, ist im Gefängnis auch kein
Ding der Unmöglichkeit. Es sollte ein letzter Pro-
test werden, ihre Verzweiflungstat sollte ein Zei-
chen setzen.
Obschon sie sich im WC eingeschlossen hatte,
gelang es Mitgefangenen, die Tür aufzubrechen
und die Flammen zu ersticken. Fünf Stunden dau-
erte die Fahrt zum ersten Spital, wo sie abge
wiesen wurde. Im zweiten Spital wurde sie auf der
Bahre in einem Kellerraum abgestellt und wäh-
rend dreier Tage weder gepflegt noch mit Nah-
rung versorgt. Es folgten qualvolle Behandlungen,
Folterungen mit einem Schlauch. Schwer gezeich-
net überlebte Cennet. Sie war damals 18 Jahre alt
und ist seither stigmatisiert.
Flucht vor der Vergangenheit
Die sichtbaren Narben veränderten ihr Leben, sie
wurde ausgegrenzt. In ihrem Heimatland gab es
keinen Platz für jemanden wie sie. Als 25-Jährige
kam sie in die Schweiz und entschied sich
für eine Therapie im Ambulatorium für Folter-
und Kriegsopfer SRK in Bern. Ein Entscheid,
der ihr Leben positiv veränderte. Die Narben
an ihrem Körper akzeptiert sie heute als Teil
ihrer Geschichte. Die alte Cennet, das mutige
Mädchen mit dem Traum von Gerechtigkeit, fin-
det im Lauf der Therapie immer mehr zurück zu
sich selbst.
Aussteller gesucht
Jede vierte Person, die in der Schweiz als Flücht-
ling anerkannt ist, muss mit den Folgen syste
matischer Gewalt leben. Im Ambulatorium SRK
erhalten diese Menschen Therapie und Sozial-
beratung.
Nebst Cennet Güneš fanden drei weitere
Patienten des Ambulatoriums für Folter- und
Kriegsopfer SRK den Mut, mithilfe der Kunst-
therapeutin Olgu Cevik ihre Erlebnisse und
Gefühle in Bildern darzustellen. Die Kunstaus-
stellung zeigt die traumatischen Lebensge-
schichten der Flüchtlinge und geht auf Tournee
durch die ganze Schweiz.
Falls Kirchgemeinden oder andere Interes-
sierte die Ausstellung nutzen möchten: Bitte
melden Sie sich beim Ambulatorium für Folter-
und Kriegsopfer SRK in Bern:
gi-ambulatorium@redcross.choder unter Tel. 031 960 77 77.
©Cennet Güneš