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Dossier —– ENSEMBLE 2017/15

zum Fürsten, gehörte zum weltlichen Stand. Sie

leisteten all die Arbeit, die in einer Gesellschaft

nötig ist, hatten dafür aber weniger strenge kirch-

liche Pflichten. Die Angehörigen des geistlichen

Standes – Priester, Mönche und Nonnen – leisteten

den «wahren» Dienst an Gott, indem sie sich zu

Armut, Keuschheit und Gehorsam verpflichteten.

Die Reformatoren brachten auch hier eine tief-

greifende Veränderung. Sie lehnten die Teilung

der Gesellschaft in zwei Stände ab, da diese in der

Bibel nirgends begründet ist. Stattdessen zeigten

sie, dass jeder Mensch an jedem Ort Gott mit seiner

Tätigkeit dienen kann, wenn er sie verantwor-

tungsvoll ausführt. Damit erfuhr die Arbeit eine

enorme Aufwertung. Der Alltag wurde zum «welt-

lichen Gottesdienst».

Das befreite Selbst in der Reformation

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat

den modernen Menschen als das «erschöpfte

Selbst» bezeichnet. Und meint damit ein Wesen,

das rastlos damit beschäftigt ist, sich zu steigern

und zu perfektionieren. Der Zwang, sich zu ver-

vollkommnen, beschränkt sich nicht nur auf die

Erwerbsarbeit, sondern herrscht auch in Bezie-

hungen, in der Freizeit, in den Ferien. Alles wird

Arbeit. Der Mensch ist vollumfänglich dafür ver-

antwortlich, dass sein Leben gelingt, dass es Sinn

hat. Kein Wunder, wenn immer mehr Menschen

unter dieser Aufgabe zusammenbrechen.

Die Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin

begegneten bereits in ihrer Zeit dem «erschöpften

Selbst». Die Menschen im Spätmittelalter waren

zwar nicht von der täglichen Arbeit erschöpft, da-

für von der Sorge um ihr ewiges Heil. Die Antwort

der Reformation ist für die damalige wie für die

heutige Zeit aktuell. Sie lautet: Für den Wert eines

Lebens entscheidend ist nicht, was der Mensch

tut. Sondern, wie Gott ihn anschaut. Und Gott

schaut das Leben jedes Menschen mit einem gnä-

digen Blick an und verleiht ihm so eine unverlier-

bare Würde. Der Mensch wird dadurch zum «be-

freiten Selbst», entlastet von der übergrossen

Aufgabe, für den Wert seines Lebens einzustehen.

Stattdessen kann er sich den erreichbaren Zielen

in der Welt widmen.

Das Korinther Modell in der Bibel

Das erschöpfte Selbst der Moderne ist auch ein

einsames Selbst. Eine Arbeitswelt, in welcher Stel-

len wegrationalisiert werden und nur die Fittesten

weiterkommen, macht alle zu Konkurrenten. Pau-

lus beschreibt in seinem ersten Brief an die christ-

liche Gemeinde in Korinth eine andere Wirklich-

keit, wenn er vom Zusammenleben und -arbeiten

der Christinnen und Christen spricht. Er spricht

von der Gemeinde als einem Leib (Kapitel 12). Und

kommt dabei auch auf die Rolle jedes einzelnen

Gliedes zu reden: «Der Leib besteht ja nicht aus

einem Glied, sondern aus vielen. Wenn der Fuss

sagt: Weil ich nicht Hand bin, gehöre ich nicht

zum Leib, gehört er nicht dennoch zum Leib?» Es

gibt in dieser Gemeinschaft niemanden, der nicht

Teil von ihr wäre. Und deshalb auch niemanden,

der nicht gebraucht würde. «Das Auge kann nicht

zur Hand sagen: Ich brauche dich nicht, auch

nicht der Kopf zu den Füssen: Ich brauche euch

nicht.» In der Tat ein absurder Gedanke, dass ein

Glied des Leibes ohne die anderen bestehen könn-

te. Und ebenso absurd ist der Gedanke für das

Neue Testament, dass es Menschen geben könnte,

die Gott nicht mit Fähigkeiten begabt hat, die al-

so nicht gebraucht werden.

In einer Arbeitswelt, die in manchmal brutaler

Weise Menschen ausrangiert, die nicht mehr voll

leistungsfähig sind, muss die Kirche eine alterna-

tive Botschaft vertreten. Nämlich das Korinther

Modell, die Botschaft also, dass kein Mensch ohne

Gabe und damit ohne Aufgabe ist. Das mag nicht

immer im Rahmen einer bezahlten Arbeit sein.

Aufgaben können beim Betreuen anderer warten,

Das erschöpfte

Selbst ist auch ein

einsames Selbst.

Le moi fatigué est

aussi un moi seul.

©Benjamin Manser /  Imagopress