17
ENSEMBLE 2016/6 —– Fokus
Es geht darum, für die nächsten Jahre zu fra-
gen, was aus dem ganzen Evangelium, aus dieser
grossen Vision heraus, jener Punkt ist, der für uns
als Kirche zurzeit wichtig ist. An den Konferenzen
habe ich immer wieder gesagt, dass es darum
geht, die Vision zu finden und nicht zu erfinden.
Man findet etwas, das bereits vorhanden ist. Neh-
men wir als Vergleich dazu die Reformation, die
zurzeit ja sehr aktuell ist. Die Reformation hat neu
entdeckt, dass der Mensch einen Wert hat. Dies
nicht aus sich selbst heraus, sondern der Wert wird
ihm in der Annahme durch Gott gegeben. Das ist
etwas, das Luther für sich als Person neu entdeckt
und das eine ganze Revolution ausgelöst hat. Die
Zeit war damals reif dafür. So gab es immer wieder
Zeiten, in denen die Menschen einen Schwerpunkt
aus dem Evangelium herauskristallisiert haben.
Eigentlich war er schon immer da, doch er wurde
vergessen oder man hat seine Aktualität gerade
nicht gespürt. Damit wurde der Rest des Evange-
liums nicht in Frage gestellt.
Sind denn die jetzige Identität und die Strukturen
veraltet?
Ich zögere mit einer Antwort. Weil wir den
Prozess ja nicht steuern wollen. Aber ich bin bei
spielsweise überzeugt, dass der Gottesdienst er-
neuert werden muss.
Wie könnte er erneuert werden?
Ich verspreche mir etwas von Zielgruppengot-
tesdiensten, bei denen bewusst eine bestimmte
Bevölkerungsschicht angesprochen wird. Wir ha-
ben das in meiner früheren Gemeinde einmal
ausgerechnet: Wir können einen vielfältigen Got-
tesdienst am Sonntagmorgen anbieten und es
kommen 200 Leute. Aber wir können am Samstag-
abend etwas für die Jungen anbieten, am Sonn-
tagmorgen etwas Traditionelles und am Sonntag-
nachmittag etwas Familienorientiertes. Dann
erreichen wir 300 bis 400 Leute am gleichen Wo-
chenende.
Es kam also eine grosse Zahl an Fragen zusammen.
Wie geht es nun weiter?
Wir haben eine Expertengruppe eingesetzt.
Das sind Leute aus dem Haus der Kirche und ex-
terne Fachleute, die sich mit statistischen Auswer-
tungen auskennen. Die haben vorerst einmal die
Methode geklärt, nach der die Erhebung stattfin-
den soll. Es wird sehr wissenschaftlich vorgegan-
gen und am Schluss werden wir eine wissenschaft-
liche Auswertung haben. Die Expertengruppe soll
uns die 10 bis 15 relevantesten Themen aus den
Fragen herauskristallisieren. Sie soll die Themen
beschreiben und uns dazu Musterfragen geben.
So, dass wir an der Gesprächssynode vom 17. Au-
gust in Gruppen daran arbeiten können.
Ist ein solcher Visionsprozess eine reformierte
Tradition?
Ich bin überzeugt, dass zutiefst reformiert ist,
was wir machen. Beim Entwerfen des Prozesses
habe ich realisiert, dass der Abschluss ins Jahr 2017,
also ins Reformationsjubiläum, fallen kann. Da
wurde mir klar, dass wir alles daran setzen müs-
sen, es in dieser kurzen Zeit zu schaffen.
Im Jahr 2017 ist es virulent, eine reformierte
Kirche zu sein und das Ergebnis eines Reformpro-
zesses zu haben.
Ich möchte noch kurz über das Schlussfest reden.
Das wurde in der Synode ja heftig diskutiert und
schlussendlich abgeschmettert. Wie nehmen Sie
dazu Stellung?
Ich empfand es nicht als ein Abschmettern,
sondern man hat das Schlussfest neu modifiziert.
Es wurden ja auch klare Vorgaben gemacht: Nicht
20 000 Teilnehmende sollen das Ziel sein, sondern
10 000, und es soll etwas Zentrales sein. Die Finan-
zen hat man eigentlich nicht so heftig diskutiert.
Die Diskussion war teilweise hochemotional, denn
es ging den Leuten um etwas Wesentliches. Ich
habe schon bedauert, dass man etwas kleingläu-
big war, indem man sich keinen Grossanlass zu-
getraut hat. Wir haben am Schluss ja eine Vision
und die soll nicht in der Schublade verschwinden.
Wir haben uns überlegt, wie man eine Vision in
einer grossen Kirche mit 600 000 Mitgliedern, mit
200 Kirchgemeinden und 500 Pfarrämtern veran-
kern kann. Da kann man nicht einfach ein Brief-
lein schicken, sondern es braucht starke Mittel.
Deshalb kamen wir auf diesen Grossanlass.
©Michael Stahl
Iwan Schulthess