Previous Page  6 / 32 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 6 / 32 Next Page
Page Background

6

Dossier —– ENSEMBLE 2016/9

befreien, was die Konzentration auf das Gottes-

wort und auf das persönliche Gebet behindern

könnte.

Einen anderen Weg ging Johannes Calvin in

Genf. Auch hier wurden Bilder und Orgeln aus den

Kirchen entfernt. Denn auch für Calvin waren die

Verkündigung und das persönliche Gebet die zen-

tralen Elemente des Gottesdienstes. Im Unter-

schied zu Zwingli war er aber der Überzeugung,

dass gesungene Gebete die Beziehung zu Gott

beleben und vertiefen. Er liess deshalb sämtliche

Psalmen nachdichten und von prominenten zeit-

genössischen Komponisten vertonen. Das Ergebnis

war der Genfer Psalter, der bis heute ein reicher

Schatz der protestantischen Kirchenmusik ist.

Aspekte reformierter Spiritualität

Es ist also ein blosses Gerücht, die Reformierten

hätten keine Spiritualität. Der Theologe Hans Jür-

gen Luibl schreibt zutreffend: «Die reformierte

Nüchternheit ist kein Defizit an Spiritualität, son-

dern selber eine Form von Spiritualität.» Man darf

sagen: in einer Welt, die ächzt unter ihrer Infor-

mations- und Bilderflut, vermutlich sogar eine

sehr moderne Form der Spiritualität.

Man kann verschiedene Aspekte namhaft ma-

chen, die reformierte Spiritualität charakterisie-

ren. Reformierte Spiritualität ist Spiritualität der

Andacht, in ihrem Zentrum steht das persönliche

Gebet als Ausdruck der Gemeinschaft mit Gott. Sie

ist eine Spiritualität der Konzentration – nüchtern,

sparsam und dicht, reduziert auf das Wesentliche.

Weiter kann man sie verstehen als eine Spiritua-

lität der Leere, der Bildlosigkeit und kargen Sym-

bolik. Sie ist dies, weil bei den Reformierten die

geistige Präsenz Gottes im Vordergrund steht. Mit

all diesen Elementen ist reformierte Spiritualität

eine Spiritualität der Erwartung: des leeren Rau-

mes, der lediglich hinweist auf Gottes unverfüg-

bare, nicht machbare Anwesenheit.

Die protestantische Vorrangstellung der Bibel

wurde bereits erwähnt. Diese wird in der re­

formierten Spiritualität darin greifbar, dass sie

wesentlich eine Spiritualität des Wortes ist. Damit

ist nicht gemeint, dass bei den Reformierten vor

allem geredet wird, sondern dass man darauf ver-

traut, dass Gott durch die Lesung und Auslegung

der Bibel Glaube, Liebe und Hoffnung begründet.

Ihren zentralen Ort hat diese Auslegung im Got-

tesdienst, und reformierte Spiritualität ist deshalb

eine Spiritualität der Gemeinschaft. Darin kommt

zum Ausdruck, dass der Mensch von Gott zur Ge-

selligkeit, zum Bund bestimmt ist. Dem wider-

spricht nicht, dass reformierte Spiritualität auch

als Spiritualität des Individuums verstanden wer-

den kann. Getragen vom Bewusstsein, dass es

christlichen Glauben nur als persönlich angeeig-

neten, verantworteten und gelebten Glauben gibt,

gewährt sie Raum für vielfältige Formen indivi-

dueller Frömmigkeit.

Singen – denken – handeln

Ebenfalls schon erwähnt wurde, in welchem Mass

zum Reformiertsein eine singende Spiritualität

gehört. Nicht weniger haben die Reformierten

aber immer auch Wert darauf gelegt, dass sie eine

denkende Spiritualität pflegen, weil ein Christen-

mensch immer auch verstehen will, was er oder

sie glaubt. Auch diese rationale Seite ist ein wich-

tiger Teil einer «ganzheitlichen» Spiritualität!

Ebenso wie eine handelnde Spiritualität, in wel-

cher Gottes- und Menschenliebe auch in sichtbarer

Form zusammenkommen. Reformierter Glaube,

das ist bekannt, hat immer auf Weltgestaltung

gedrungen, in der Überzeugung, dass Christus der

Herr der ganzen Welt ist.

Abschliessend zwei Aspekte, die eher selten

erwähnt werden, ohne die aber reformierte Spiri-

tualität ebenfalls nicht denkbar wäre. Zunächst,

dass sie immer auch eine Spiritualität der Ehre

Gottes war. Es war vor allem Calvin, der die Ehre

Gottes als die Mitte menschlichen Lebens hervor-

gestrichen und damit gesagt hat: Auf Gott vertrau-

en heisst, von sich selbst weg auf einen Andern

sehen. In einer Ich-Gesellschaft, in der auch Spi-

ritualität gerne egozentrisch gelebt wird, eine

kritische, aber auch befreiende Sicht. Und: Refor-

mierte Spiritualität ist mit all ihren Elementen

stets eine Spiritualität auf demWeg – im Bewusst-

sein, dass wir auf Gottes Zukunft warten, auf die

alles menschliche Feiern nur ein bescheidener

Hinweis sein kann. Reformierte Spiritualität bringt

deshalb vor allem eines zum Ausdruck: eine gros-

se Hoffnung auf die umfassende Herrschaft Gottes.

Nochmals: Die Reformierten können spirituell

auf vieles stolz sein. Trotzdem brauchen sie immer

die Ergänzung und Bereicherung durch andere

Traditionen. Sie haben ihrerseits aber auch viel

einzubringen in den vielstimmigen Chor der

christlichen Kirchen.

Spiritualität

der Erwartung.

Spiritualité

de l’attente.

©Michael Stahl