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Dossier —– ENSEMBLE 2016/9
befreien, was die Konzentration auf das Gottes-
wort und auf das persönliche Gebet behindern
könnte.
Einen anderen Weg ging Johannes Calvin in
Genf. Auch hier wurden Bilder und Orgeln aus den
Kirchen entfernt. Denn auch für Calvin waren die
Verkündigung und das persönliche Gebet die zen-
tralen Elemente des Gottesdienstes. Im Unter-
schied zu Zwingli war er aber der Überzeugung,
dass gesungene Gebete die Beziehung zu Gott
beleben und vertiefen. Er liess deshalb sämtliche
Psalmen nachdichten und von prominenten zeit-
genössischen Komponisten vertonen. Das Ergebnis
war der Genfer Psalter, der bis heute ein reicher
Schatz der protestantischen Kirchenmusik ist.
Aspekte reformierter Spiritualität
Es ist also ein blosses Gerücht, die Reformierten
hätten keine Spiritualität. Der Theologe Hans Jür-
gen Luibl schreibt zutreffend: «Die reformierte
Nüchternheit ist kein Defizit an Spiritualität, son-
dern selber eine Form von Spiritualität.» Man darf
sagen: in einer Welt, die ächzt unter ihrer Infor-
mations- und Bilderflut, vermutlich sogar eine
sehr moderne Form der Spiritualität.
Man kann verschiedene Aspekte namhaft ma-
chen, die reformierte Spiritualität charakterisie-
ren. Reformierte Spiritualität ist Spiritualität der
Andacht, in ihrem Zentrum steht das persönliche
Gebet als Ausdruck der Gemeinschaft mit Gott. Sie
ist eine Spiritualität der Konzentration – nüchtern,
sparsam und dicht, reduziert auf das Wesentliche.
Weiter kann man sie verstehen als eine Spiritua-
lität der Leere, der Bildlosigkeit und kargen Sym-
bolik. Sie ist dies, weil bei den Reformierten die
geistige Präsenz Gottes im Vordergrund steht. Mit
all diesen Elementen ist reformierte Spiritualität
eine Spiritualität der Erwartung: des leeren Rau-
mes, der lediglich hinweist auf Gottes unverfüg-
bare, nicht machbare Anwesenheit.
Die protestantische Vorrangstellung der Bibel
wurde bereits erwähnt. Diese wird in der re
formierten Spiritualität darin greifbar, dass sie
wesentlich eine Spiritualität des Wortes ist. Damit
ist nicht gemeint, dass bei den Reformierten vor
allem geredet wird, sondern dass man darauf ver-
traut, dass Gott durch die Lesung und Auslegung
der Bibel Glaube, Liebe und Hoffnung begründet.
Ihren zentralen Ort hat diese Auslegung im Got-
tesdienst, und reformierte Spiritualität ist deshalb
eine Spiritualität der Gemeinschaft. Darin kommt
zum Ausdruck, dass der Mensch von Gott zur Ge-
selligkeit, zum Bund bestimmt ist. Dem wider-
spricht nicht, dass reformierte Spiritualität auch
als Spiritualität des Individuums verstanden wer-
den kann. Getragen vom Bewusstsein, dass es
christlichen Glauben nur als persönlich angeeig-
neten, verantworteten und gelebten Glauben gibt,
gewährt sie Raum für vielfältige Formen indivi-
dueller Frömmigkeit.
Singen – denken – handeln
Ebenfalls schon erwähnt wurde, in welchem Mass
zum Reformiertsein eine singende Spiritualität
gehört. Nicht weniger haben die Reformierten
aber immer auch Wert darauf gelegt, dass sie eine
denkende Spiritualität pflegen, weil ein Christen-
mensch immer auch verstehen will, was er oder
sie glaubt. Auch diese rationale Seite ist ein wich-
tiger Teil einer «ganzheitlichen» Spiritualität!
Ebenso wie eine handelnde Spiritualität, in wel-
cher Gottes- und Menschenliebe auch in sichtbarer
Form zusammenkommen. Reformierter Glaube,
das ist bekannt, hat immer auf Weltgestaltung
gedrungen, in der Überzeugung, dass Christus der
Herr der ganzen Welt ist.
Abschliessend zwei Aspekte, die eher selten
erwähnt werden, ohne die aber reformierte Spiri-
tualität ebenfalls nicht denkbar wäre. Zunächst,
dass sie immer auch eine Spiritualität der Ehre
Gottes war. Es war vor allem Calvin, der die Ehre
Gottes als die Mitte menschlichen Lebens hervor-
gestrichen und damit gesagt hat: Auf Gott vertrau-
en heisst, von sich selbst weg auf einen Andern
sehen. In einer Ich-Gesellschaft, in der auch Spi-
ritualität gerne egozentrisch gelebt wird, eine
kritische, aber auch befreiende Sicht. Und: Refor-
mierte Spiritualität ist mit all ihren Elementen
stets eine Spiritualität auf demWeg – im Bewusst-
sein, dass wir auf Gottes Zukunft warten, auf die
alles menschliche Feiern nur ein bescheidener
Hinweis sein kann. Reformierte Spiritualität bringt
deshalb vor allem eines zum Ausdruck: eine gros-
se Hoffnung auf die umfassende Herrschaft Gottes.
Nochmals: Die Reformierten können spirituell
auf vieles stolz sein. Trotzdem brauchen sie immer
die Ergänzung und Bereicherung durch andere
Traditionen. Sie haben ihrerseits aber auch viel
einzubringen in den vielstimmigen Chor der
christlichen Kirchen.
Spiritualität
der Erwartung.
Spiritualité
de l’attente.
©Michael Stahl