10
Dossier —– ENSEMBLE 2016/14
Alberto Achermann ist Professor für
Migrationsrecht an der Universität Bern,
selbstständiger Anwalt und Rechtskonsulent
sowie Präsident der Nationalen Kommission
zu Verhütung von Folter. Ein Gespräch
über die Entwicklungen des Asylwesens.
Von Adrian Hauser
Herr Achermann, gegenüber dem Vorjahr sind die
Asylgesuche gemäss Statistik um 42 Prozent zu-
rückgegangen. Warum?
Dazu haben verschiedenen Faktoren beige
tragen. Ein wesentlicher Faktor ist die mehr oder
weniger geschlossene Balkanroute. Viele Leute
wollen auch nicht unbedingt in die Schweiz und
reisen weiter, nachdem sie das Mittelmeer über-
quert haben.
Warum wollen weniger Leute in die Schweiz?
Die Schweiz hat teilweise den Ruf, sehr strikt
zu sein. Sie ist das einzige Land, welches das
Dublin-Regelwerk sehr konsequent umsetzt. Die
Schweiz hat mehr Dublin-Rückführungen als
Deutschland und etwa gleich viele wie alle
weiteren Dublin-Länder zusammen. Ich nehme an,
dass sich das herumgesprochen hat. Zudem haben
sich neue Diasporas beispielsweise in Schweden
und in Deutschland gebildet, und eritreische Asyl-
suchende wollen vermehrt in diese Länder.
Was ist der Grund für die restriktive Haltung der
Schweiz?
Der allgemeine Druck von Bundespolitikern
und Kantonen auf die Regierung ist sehr hoch und
der asylpolitische Spielraum sehr klein. Denn vie-
le Leute, die hierherkommen, sind auch tatsäch-
lich schutzbedürftig. Man kann diese Menschen
nicht einfach mit schnellen Verfahren und einer
gross angelegten Ausschaffungsmaschinerie aus
dem Land bringen. Das ist den meisten klar. Aber
dann kommt die Frage, was man tun kann, um die
Menge an Asylgesuchen zu senken. Also handelt
man dort, wo es noch einen Spielraum gibt: eine
härtere Praxis gegenüber einzelnen Ländern wie
Eritrea oder eben eine strengere Umsetzung der
Dublin-Verordnung.
Im Fall von Eritrea erhalten Personen, die «nur»
illegal ausgereist sind und nicht den Militärdienst
verweigert haben oder desertiert sind, kein Asyl
mehr. Was halten Sie von dieser Praxis?
Bei einer strikten Auslegung des Asylgesetzes
ist das juristisch in Ordnung. Die Frage ist nun
aber, was mit diesen Personen passiert. Wenn man
ihnen wie in anderen Ländern einen Schutzbe-
dürftigenstatus geben würde, der vergleichbar mit
dem Flüchtlingsstatus ist, dann wäre das einiger-
massen akzeptabel. Denn so hätten sie eine Pers-
pektive, könnten arbeiten und etwas aufbauen.
Auch ein Familiennachzug wäre möglich. Bei uns
ist das Verheerende, dass viele von diesen Men-
schen, sofern sie nicht vorläufig aufgenommen
werden, in der Nothilfe landen, weil sie gegen
ihren Willen nicht in ihre Heimat ausgeschafft
werden können. Das müsste uns Sorgen machen:
die Zunahme von Nothilfebezügern ohne Aussicht
auf eine Legalisierung.
Das ist eine Prekarisierung einer ganzen Bevölke-
rungsschicht ...
Genau! Man schafft eine grosse Kategorie weit-
gehend rechtloser Leute. Das ist eine sehr ungute
Entwicklung.
Wie will man das lösen? Irgendwann muss man
sich diesem Problem ja stellen ...
Die Schweiz will das nicht lösen. Das ist natür-
lich eine Abschreckungspolitik. Man will die Leute
hinausekeln und ja keine Anreize setzen.
Die Praxis hat sich also doch verschärft in den
letzten Jahren?
«DIE
SOLIDARITÄT
IST GEWACHSEN»
ASYLWESEN
«IL Y A DAVANTAGE DE
SOLIDARITÉ
AUJOURD’HUI»
ASILE