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ENSEMBLE 2016/14 —– Dossier
Zum Teil hat sich die Praxis verschärft, zum
Teil aber auch nicht. Es gibt im Flüchtlingsbereich
nie ganz lineare Entwicklungen. Einerseits haben
wir in den letzten 15 Jahren eine Ausweitung des
Flüchtlingsbegriffs erlebt, andererseits gab es aber
auch massive Verschärfungen.
Wie steht die Schweiz denn im internationalen
Vergleich da?
Die Schweiz hatte tendenziell immer eine
strengere Praxis im Vergleich zu anderen europä-
ischen Staaten. Bei den Asylgesuchszahlen befin-
den wir uns im europäischen Vergleich immer
noch im obersten Fünftel. Die Schweiz hatte in
den letzten 20 Jahren pro Kopf doppelt so viele
Asylsuchende wie Deutschland.
Wie werden sich die Asylgesuchszahlen ent
wickeln?
Ich nehme an, dass die Zahlen anhaltend hoch
bleiben werden. Wir müssen damit rechnen, dass
pro Jahr eine halbe bis eine Million Menschen
nach Europa ins Asylverfahren kommen werden.
Was müsste man tun, damit weltweit weniger
Menschen flüchten müssen?
Man muss unterscheiden, was für eine Situa-
tion in einem Land herrscht. Ein Konflikt wie in
Syrien ist etwas völlig anderes als eine allgemeine
wirtschaftliche Misere. In Konflikten müsste man
Friedenspolitik betreiben, aber wir wissen ja, dass
dies aufgrund der Involvierung verschiedener
Mächte fast unmöglich ist. Gegen die irreguläre
Flucht, bei der die Menschen ihr Leben riskieren
und viel Geld ausgeben, sind Umsiedlungspro-
gramme ein wirksames Mittel. Dabei holt man
jedes Jahr eine bestimmte Anzahl Leute aus einem
Land und nimmt sie auf. Die Zurückgebliebenen
müssen warten, bis sie an der Reihe sind, aber sie
wissen, dass man sie holen wird. Man hat früher
bei Vietnam gesehen, dass dadurch die Zahlen
spontaner Ausreisen massiv zurückgegangen sind.
Aus Vietnam hat man zweieinhalb Millionen Leu-
te in den Westen umgesiedelt.
Und bei wirtschaftlichen Miseren?
Die grosse Lebenslüge von Europa ist, dass man
keine billigen Arbeitskräfte brauche. Man könnte
beispielsweise Menschen aus Afrika die Möglich-
keit geben, zwei oder drei Jahre legal hier zu ar-
beiten. Spanien hat das relativ erfolgreich mit
Leuten aus Marokko und Südamerika gemacht.
Und der Rest ist dann die ganz grosse Handels
politik. Wie können Produzenten aus schlechter
entwickelten Ländern ihre Waren auf dem Welt-
markt verkaufen? Solange Europa die Landwirt-
schaft massiv subventioniert, haben diese Länder
kaum eine Chance. Einerseits mussten sie ihre
Heimmärkte öffnen, andererseits sind jene Märk-
te, in denen sie eigentlich stark wären, für sie ge-
schlossen. Das ist die grosse Frage des globalen
Ungleichgewichts. Ich habe nicht das Gefühl, dass
man hier wahnsinnig weit ist.
Was könnte die Schweiz im Umgang mit Flücht-
lingen verbessern?
Die Aufwertung des Status der vorläufig Auf-
genommenen, wie es der Bundesrat kürzlich vor-
geschlagen hat, wäre wichtig. Denn das betrifft
über 30 000 Menschen, die nach ein paar Jahren
vielleicht eine Aufenthaltsbewilligung erhalten,
aber wegen des erschwerten Arbeitsmarktzugangs
wertvolle Jahre von ihrem Leben mit Warten ver-
lieren. Auch mit den schnelleren Asylverfahren ist
allen gedient, solange der Rechtsschutz gewähr-
leistet ist.
Wo sehen Sie die Rolle der Kirchen im ganzen Asyl-
wesen?
Die Kirchen haben in der gesamten Schweizer
Flüchtlingspolitik immer eine sehr grosse Rolle
gespielt. Vor und während dem Zweiten Weltkrieg
hat der Staat nichts für den Flüchtlingsschutz be-
zahlt. Das waren ausschliesslich die Zivilgesell-
schaft und vor allem die Kirchen, welche die
Flüchtlinge mit eigenen Mitteln unterstützt ha-
ben. Der Staat ist erst in den 50er-Jahren in die
Fürsorge von Flüchtlingen eingestiegen. Das HEKS
hat im Landesinnern bis in die 80er-Jahre prak-
tisch nur Flüchtlingsarbeit gemacht. Auch bei der
Finanzierung von Rechtsberatungsstellen spielen
die Kirchen eine wichtige Rolle und natürlich bei
der Integration. Es ist schon beeindruckend zu
©Adrian Hauser
Alberto
Achermann