4
Dossier —– ENSEMBLE 2016/6
Von Frank Mathwig*
Eine erste Beobachtung lässt bereits aufhorchen.
Die international einflussreichsten und auch in
der Schweiz fest etablierten bioethischen Prinzi-
pien von Tom L. Beauchamp und James F. Childress
lauten: Autonomie (autonomy), Nichtschaden
(nonmaleficence), Wohltun (beneficence) und Ge-
rechtigkeit (justice). Das Würdeprinzip kommt
nicht vor. Daran anschliessend plädiert Ruth
Macklin dafür, auf den Würdebegriff zugunsten
der Autonomie ganz zu verzichten. Drei Argumen-
te werden genannt: 1. Würdevorstellungen sind
so allgemein und diffus, dass sie für die konkrete
Urteils- und Entscheidungsfindung unbrauchbar
seien. 2. Der Würdebegriff sei eine Art «Tot-
schlagargument», das jede Diskussion im Keim
ersticken würde. Und 3. Der Würdebegriff kommt
aus der jüdisch-christlichen Tradition und sei für
viele Menschen daher entweder fremd oder nicht
akzeptabel.
Wozu menschliche Würde?
Aber umgekehrt gefragt: Welche Lücke würde der
Verzicht auf den Würdebegriff aufreissen? Wer
übernimmt seine Funktion und was geschieht,
wenn sein Platz leer bleibt? Die bioethischen Stan-
dardfragen lauten: Wann fängt würdevolles Leben
an und wann hört es auf? Die Fragen sind lebens-
wichtig, denn mit der Anerkennung der Würde sind
besondere Schutzpflichten und Anspruchsrechte
verbunden. Tatsächlich funktioniert der Verweis
auf die Menschenwürde wie ein übergrosses, grell
leuchtendes Stopp-Schild: Bis hierher und auf kei-
nen Fall weiter! Was geschieht, wenn diese kate-
gorische Grenze Löcher bekommt oder ganz fällt?
Aktuell wird etwa darüber gestritten, ob Un-
geborene, Schwerstkranke, Hochbetagte und Men-
schen mit schwersten Behinderungen automa-
tisch und in jedem Fall unter das Tabu der
Menschenwürde fallen. Soll der Würdeschutz auch
für Menschen gelten, die nur noch in extrem ein-
geschränkter Weise darüber verfügen, was nach
allgemeiner Auffassung zu den unverzichtbaren
Merkmalen eines gelingenden menschlichen Le-
bens gehört: einen Willen haben, das eigene Le-
ben reflektieren, kommunikationsfähig sein,
selbstbestimmt und sozial integriert leben, Ver-
antwortung übernehmen, unabhängig eigene
Entscheidungen treffen und die Konsequenzen
tragen, Lebensperspektiven und -pläne verfolgen,
Lebenssinn suchen, glücklich sein? Was bleibt von
einem Menschen, dem nicht nur all das abhan
dengekommen ist, sondern der stattdessen nur
noch Schmerzen und Qualen erleidet, totale Hilfs-
bedürftigkeit und Sinnlosigkeit erlebt? Natürlich
ist dieser Mensch nach wie vor ein Mensch, aber
würden wir auch sagen, dass er ein menschen-
würdiges Leben führt? Von dieser Frage ist es nur
ein kurzer Weg zu der weiter gehenden Frage, ob
dieser Mensch angesichts seiner erbärmlichen,
aussichtslosen Lebenssituation vielleicht doch
seine Würde verloren hat.
HAT WÜRDE EINE
HALBWERTSZEIT
?
ÜBER MENSCHENWÜRDE NICHT NUR IM ALTER
LA DIGNITÉ:
POUR UN JOUR OU POUR TOUJOURS?
DE LA DIGNITÉ HUMAINE TOUT AU LONG DE LA VIE
«Das Selbstverständliche ist die empfind-
lichste Seite jeder Gesellschaft», sagte der
Schriftsteller Christof Stählin. Die Sicherheit,
in der wir uns wiegen, erübrigt scheinbar
jede Frage danach, wie es wäre, wenn es
anders wäre. Das betrifft auch das Nachdenken
über die menschliche Würde. Natürlich
zweifelt niemand ernsthaft an ihr oder wollte
freiwillig auf sie verzichten. Wirklich?
* Prof. Dr. theol. Frank Mathwig ist Beauftragter für Theo-
logie und Ethik beim Schweizerischen Evangelischen Kir-
chenbund, Titularprofessor für Ethik an der Theologischen
Fakultät der Universität Bern und Mitglied der Nationalen
Ethikkommission im Bereich Humanmedizin
.