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ENSEMBLE 2016/6 —– Dossier
Relativer Wert
Aber wird solchen Fragen nicht mehr zugemutet,
als ihre Antworten tragen können? Schnell wird
übersehen, dass der Würdebegriff in den eben
aufgeworfenen Fragen seinen Platz gewechselt
hat. Die Frage, worin die Würde der Menschen
besteht, verwandelte sich fast unbemerkt in die
Frage, was ein menschenwürdiges Leben aus-
macht. Hier findet eine Verschiebung von einer
Auszeichnung von Menschen als Menschen zu
einer Qualifizierung der Lebenssituationen und
-bedingungen von Menschen statt. Aussagen über
menschliche Lebenssituationen und -zustände
werden dann zu Aussagen über die Menschen, die
in diesen Situationen und Zuständen leben.
Diese Verschiebung ist kein Betriebsunfall, son-
dern folgt einem ökonomischen Prinzip: Alles ist
relativ (ausser vielleicht schlechtes Essen). Jede Sa-
che hat nur einen Wert im Blick auf etwas anderes.
Ein herausfordernder Klettersteig hat nur für
Schwindelfreie einen Wert. Ein gutes Steak hat für
Vegetarier keinen Wert, so gut abgehangen es auch
sein mag. Und der traumhafte Pool ist wertlos für
Wasserscheue. In allen Fällen geht es um den Nut-
zen, den etwas im Blick auf etwas anderes hat. Und
diese Überlegung wird auch auf die Leben von
Menschen übertragen: Welchen Nutzen haben be-
stimmte Lebenszustände für die Menschen, die
darin existieren? Die Frage enthält einen prekären
Kippmechanismus: Von der Nutzlosigkeit einer Le-
benslage wird auf die Wertlosigkeit des Menschen
geschlossen, der in dieser Situation steckt.
Anschliessend geht alles ganz schnell. Wel-
chen Nutzen haben sinnlose Schmerzen, eine De-
menzerkrankung, schwere Behinderung oder ein
fortschreitendes Siechtum für das Leben? Irgend-
wie keine! Die ethischen und auch gesellschafts-
politischen Debatten kleben blind an dieser Frage
und übersehen deshalb den Holzweg, auf dem sie
nach Antworten suchen. Der Zwang, auch aus der
unerträglichsten Lebenssituation noch irgend
einen Nutzen ziehen oder Sinn pressen zu müssen,
scheitert. Aus der Würdeperspektive muss hinzu-
gefügt werden: Er darf auch scheitern, weil es für
die menschliche Würde und die Achtung und den
Respekt, den sie gebietet, überhaupt nicht auf den
Nutzen und Sinn eines Lebens ankommt. Ökono-
misch mag es als Luxus erscheinen, etwas Nutz-
loses um seiner selbst willen zu wollen, zu achten
und zu schützen. Aber genau diese antiökonomi-
sche Pointe kennzeichnet die menschliche Würde.
Einen Gedanken zu viel
Manchmal irren wir, nicht weil wir einen Gedan-
ken zu wenig, sondern einen Gedanken zu viel
machen. Die Überlegung zu viel besteht darin,
dass wir auch an den Stellen nach Gründen und
Erklärungen suchen, wo wir keine brauchen und
©Michael Würtenberg/Ex-Press
Wann fängt
würdevolles Leben
an und wann
hört es auf?
Qu’est-ce qui
marque le début
et la fin d’une
vie digne?