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Dossier —– ENSEMBLE 2016/11
so die Welt. Eine Vision fokussiert auf das Ziel.
Jedem ist klar, wo der Weg hinführen soll und was
es zu erreichen gilt. Visionen zeigen eine klare
Richtung. Sie sind das visuelle Leitbild, auf das
alles Handeln ausgerichtet ist.
Wenn Visionen fehlen
Jesus Christus verstand es, fehlende Lebendigkeit
zu spüren zu geben. Auch er setzte dafür kräftige
Visionen. Fast sein ganzes Reden war visionär. Ein
Reden in alltagstauglichen Bildern, welche die
Menschen begeisterten und zu neuen Horizonten
aufbrechen liessen. So verglich er das Himmel-
reich mit einem Senfkorn. Es ist zwar das kleinste
unter allen Samenkörnern, aber einmal ausgesät
wächst aus ihm ein Baum, in dessen Äste und
Zweige die Vögel Nester bauen, Familien gründen,
Schutz und Heimat finden. Die Nächstenliebe ver-
glich er mit dem Bild des freundlichen Ausländers,
der am Verletzten am Wegrand nicht achtlos vor-
beigeht, ihn mit erster Hilfe versorgt und zur
nächsten Notfallstation bringt.
Auf seinem ganzen Weg hinterliess Jesus kräf-
tige Bilder. Wenn er den verstossenen Leprakran-
ken berührte, die verkrümmte Frau aufrichtete,
Kinder auf den Schoss nahm, am Sonntag Ähren
pflückte oder sich vor die zu steinigende Frau stell-
te. Solche Bilder sind das Dynamit des Evange
liums. Hoffnungskraft und Energie, Sprengkraft
aller Verkrustungen. Die kraftvollsten und dyna-
mischsten Momente der Kirche wurzelten immer
wieder in der Kraft biblischer Visionen.
Für Martin Luther, den Reformator, war es die
Vision von einem gnädigen Gott, was sein bis
heriges Gottesbild auf den Kopf stellte und eine
Wende auslöste. In der einsamen Meditation über
den Bibelvers aus dem Römerbrief 1,17 habe er
plötzlich entdeckt, was er seit einem Jahrzehnt
vergeblich gesucht habe: Gottes ewige Gerechtig-
keit ist ein reines Gnadengeschenk, das dem Men-
schen nur durch den Glauben an Jesus Christus
gegeben wird. Keinerlei Eigenleistung kann dieses
Geschenk erzwingen. Auch der Glaube, das An-
nehmen der zugeeigneten Gnade, ist kein men-
schenmögliches Werk. Luther beschrieb diese
Vision als unerwartete Erleuchtung, die ihm in
seinem Arbeitszimmer im Südturm des Witten-
berger Augustinerklosters widerfahren sei. Ein
L’ÉGLISE, ÇA FAIT
DU BIEN D’Y ALLER…
ON S’Y SENT VRAIMENT
COMME À LA MAISON?
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