5
ENSEMBLE 2016/12 —– Dossier
Viertens: Gerade auch dieser Schatz provoziert
heutzutage Missverständnisse. Gott agiert in
Bibelgeschichten kaum anders als die mensch
lichen Protagonisten. Er spricht, handelt, macht
Pläne, freut sich, zürnt, straft oder rettet. Säkular
aufgewachsene Menschen verstehen das wörtlich.
Und sie setzen eigene Lebenserfahrung dagegen.
Sie müssten neu lernen, was offenbar einmal
selbstverständlich war: dass Rede von Gott immer
nur uneigentliche, annähernde, metaphorische
Rede sein kann. Wenn geschrieben steht: «Gott
sprach zu Abraham», so heisst das auf der Sach
ebene: «Abraham hat etwas gehört» – und erst auf
der Deutungs- und Bekenntnisebene: «Und Abra-
ham glaubte: Das war Gott!»
Das heisst für den, der Bibelgeschichten «ver-
mitteln» will: Es genügt nicht, sie weiterzugeben,
so wie sie sind. Man muss sie öffnen. Das ist die
didaktische, die eigentliche Herausforderung.
Alles weitere – die passende Ansprache für diese
oder jene Zielgruppe – ist dann «nur noch» Me-
thodik, Kunst, Technik, pädagogische Begabung
und Gespür.
Das Öffnen von Geschichten
Für die Didaktik des Öffnens von Bibelgeschichten
bewähren sich drei Schritte: «Perspektiven klä-
ren», «Sicherheitsabstand wahren», «zur Ausein-
andersetzung einladen».
Die Erzählerin muss zuerst ihre Perspektive
klären. Der Bibeltext liegt vor. Er ist schon erzählt
– von einer Erzählerschaft, die kaum in Erschei-
nung tritt. Sie verbirgt sich hinter dem anonymen
Bekenntnis: «So war das. Ich weiss das gewiss.»
Die Frage, die sich der Neu-Erzählerin stellt, ist:
«Will, beziehungsweise kann ich das so über
nehmen? Ist das auch meine Erzählhaltung?» Das
entscheidet zunächst jeder und jede für sich. Aber
es gilt auch, die Rezipienten in den Blick zu
nehmen: «Werden die mir das abnehmen?» Und:
«Was haben sie davon?» Was haben sie davon,
wenn da eine Erzählerin auftritt, die bekennt: «Ich
weiss das gewiss?» Sie – die heutzutage gewöhnt
sind, sich selbst ein Bild zu machen und selbst zu
entscheiden – haben angesichts dieses Bekennt-
nisses nur zwei Optionen: Entweder glauben sie
es oder nicht. Darum empfiehlt es sich, eine vor-
sichtigere Perspektive zu wählen, zum Beispiel die
einer Haupt- oder Nebenfigur der Handlung. Aus
ihrer Perspektive lässt sich auf der Sachebene er-
zählen und dann subjektiv deuten: «Ich glaube,
das kommt von Gott – was glaubst du?» Die Rezi-
pienten erleben so in der Erzählung mit, was die
Akteure erleben, und sie hören, wie die Akteure
Schauspielerin
Dorothée Reize
rezitiert aus
der Bibel.
La comédienne
Dorothée Reize
récitant la Bible.
©Mauro Mellone