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Dossier —– ENSEMBLE 2016/12
das Erlebte deuten. Sie sind eingeladen, mitzu-
denken und sich ein eigenes Bild zu machen.
Die Erzählerin teilt zweitens ihr Vorwissen. Sie
hat sich mit der Geschichte befasst und sich exe-
getische Fragen gestellt: «Um welche Gattung
handelt es sich, in welchen Ursprungssituationen
spricht diese Geschichte? Mit welcher Intention
ist sie erzählt worden? Welche Relevanz und wel-
chen Fokus kann sie heute im Hinblick auf die
betreffende Zielgruppe haben?»
Die Zuhörenden haben ein Recht darauf, zu
wissen, was für ein Wirklichkeitsverständnis vor-
ausgesetzt wird: «Ist das wirklich passiert?» Oft
befindet sich der wahre Schatz jedoch unter der
Oberfläche. Deshalb muss man eine Frage stellen,
die weiterführt: «Warum wird das erzählt?»
Manchmal ist eine Einleitung, ein «Öffner» nötig,
um die Fragehaltung anzudeuten, zu der in der
Erzählung eine Antwort gesucht werden kann. Oft
genügt es, hin und wieder eine klärende Formel
einzufügen, einen Abstand-Marker: «Es wird er-
zählt ...» oder: «Später erzählten die Leute, die
dabei waren ...»
Die Erzählerin wählt drittens aus und spitzt zu.
Sie muss nicht alles erzählen – dafür gibt es den
überlieferten Text. Sie wählt einen Schwerpunkt.
Dieser ist zugleich die Pointe. Dafür sucht sie ge-
rade die Stelle aus, von der sie annimmt, dass ih-
re Zuhörenden sich wundern werden. Sie kann
Befremden erregen, Fragen aufwerfen oder sogar
Abwehr erzeugen. Es ist ungemein fruchtbarer,
mit einer Anfrage zu enden, anstatt mit: «Und
wenn sie nicht gestorben sind ...» Denn durch ei-
ne Frage ergibt sich eine Auseinandersetzung,
welche die Rezipienten weiter beschäftigt.
Methodik für verschiedene Zielgruppen
Auf der Grundlage solcher didaktischer Klärung
trifft die Erzählerin im letzten Schritt methodische
Entscheidungen im Hinblick auf die Zielgruppe.
Für Anfänger eignet sich eine lebendige und
anschauliche Erzählung. Das Spektrum reicht vom
Puppenspiel über Legebilder bis hin zum inter
aktiven Erzählen. Dabei wird der Unterschied
zwischen der Momentaufnahme Erzählung und
©Mauro Mellone
Die Autorin
Dr. Martina Stein-
kühler an einem
Vortrag in Bern.
L’auteure
Dr. Martina Stein-
kühler lors
d’une conférence
à Berne.
Bibelausstellung
im Haus der
Kirche in Bern.
Exposition sur la
Bible à la Maison
de l’Eglise à Berne.
©Mauro Mellone