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ENSEMBLE 2017/20 —– Dossier
Die Rolle der Kirchgemeinden
Die Rolle der Kirchgemeinden und ihrer Verant-
wortlichen vor Ort ist zentral. Matthias Zeindler
zieht zum Beweis das Beispiel von Riggisberg he-
ran. Das ist eine kleine, bürgerliche und konser-
vative Gemeinde, in der 2400 Seelen wohnen und
die bekannt geworden ist für ihr Engagement
zugunsten von Flüchtlingen. Im Sommer 2014 er-
öffnete die Gemeinde, in der die SVP die grösste
Partei ist, ein Durchgangszentrum für Asylbewer-
ber. Der sehr aktiv am Projekt beteiligte Pfarrer
konnte eine Bevölkerung überzeugen, die gegen-
über Migranten und Migrantinnen eher kritisch
eingestellt ist. Im Berner Länggassquartier bietet
ein Kirchgemeindezentrum Flüchtlingen schon
seit längerem Sprachkurse an und stellt sich als
Ort der Begegnung zwischen Asylsuchenden und
Einheimischen zur Verfügung. Diese Art von Ak-
tivitäten ist stark abhängig vom Engagement der
Pfarrpersonen. Im Kanton Jura und im Berner Jura
existiert zudem der sogenannte «Rencar»: Das
Wohnmobil klappert den Jura ab und hat für alle
Personen, die es brauchen, ein offenes Ohr.
Ethische Orientierungshilfe
Ganz allgemein ist eine der wohl wichtigsten Rol-
len der Kirchen die moralische und ethische Ori-
entierungshilfe, die sie der Gesellschaft bieten,
führt der Theologe Matthias Zeindler aus. Eine vor
ein paar Jahren von der theologischen Fakultät
Lausanne durchgeführte Befragung ergab dies
bezüglich ein interessantes Ergebnis: Für viele sä-
kulare, nicht konfessionell geprägte Menschen, die
nur selten oder nie einen Fuss in eine Kirche setzen,
ist es doch sehr wichtig zu wissen, dass sich jeden
Sonntag immer noch Menschen treffen, um Got-
tesdienste abzuhalten. So sind etwa Personen, die
der gegenüber Flüchtlingen eher negativ einge-
stellten SVP nahestehen, trotzdem der Meinung,
die Kirchen sollten sich für Flüchtlinge einsetzen.
In der heutigen Gesellschaft muss sich eine Ge-
meinschaft für menschliche Werte starkmachen,
und diese Aufgabe wird den Kirchen übertragen.
Dasselbe gilt für den Religionsunterricht in der
Schule. Dieser ist sehr wichtig für das Leben in einer
vielfältigen Gesellschaft, in der unterschiedliche
Religionen präsent sind. Selbst der deutsche Philo-
soph und Soziologe Jürgen Habermas sagt heute
– obwohl ausgesprochen materialistisch und prag-
matisch ausgerichtet –, dass die moderne säkulare
Gesellschaft die Stimme der Religionen benötige,
um tragfähig zu sein, ergänzt Matthias Zeindler.
Rechtfertigung
Gegenwärtig wird allerdings von bestimmten po-
litischen Kreisen eine Liberalisierung der Leistun-
gen der Kirchen gefordert. Leistungen, die heute
von den Kirchen erbracht werden, sollen öffentlich
ausgeschrieben werden. Nicht zuletzt deshalb
müssen die Kirchen ihre Aktivitäten immer stärker
rechtfertigen. In Westschweizer Kantonen wie
Neuenburg oder Genf, in denen Kirche und Staat
stark getrennt sind, müssen die Kirchen ihre
Kommunikation noch stärker gewichten. Denn sie
erbringen immer noch beachtliche Leistungen für
den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das können
sie nur dank der vielen Freiwilligen, ohne die viele
Leistungen schlicht nicht zu erbringen wären und
die bei privaten Unternehmen viel zu hohe Per
sonalkosten generieren würden.
Der Religions
unterricht ist
wichtig für das
Leben in einer
vielfältigen
Gesellschaft.
L’éducation reli
gieuse est impor-
tante pour la vie
dans une société
diversifiée.
©Keystone /Caro Andrée Kaiser