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Dossier —– ENSEMBLE 2015/3
ner Handvoll anderer Flüchtlinge überquert er
die Berge zu Fuss. Nach einer Wartezeit von mehr
als einem Monat erhält er seinen syrischen Pass,
mit dem er per Flugzeug in die Türkei reist. Dort
sucht er nach einer Bleibe und findet ein «Hotel»,
in dem bereits mehrere andere Migranten in der-
selben Situation logieren. In der Nacht erfährt er,
dass seine Leidensgenossen planen, nach Grie-
chenland zu gehen. Er schliesst sich ihnen an und
findet sich wieder in einer Gruppe von 70 Leuten;
er weiss nicht, wohin das Schicksal sie führen
wird.
Vom Meer in die Berge
Nach mehreren Stunden Fahrt in einem Lastwa-
gen muss die Gruppe einen 30-Kilometer-Marsch
durch ein Waldgebiet unter die Füsse nehmen, bis
sie an einen Wasserlauf gelangen, an dem
Schlauchboote auf sie warten. Gerade, als die ers-
ten Boote zu Wasser gelassen werden, taucht die
türkische Polizei auf. Antonio schafft es, sich am
Flussufer zu verstecken, und ergattert schliesslich
einen Platz in einem Boot. Frühmorgens trifft er
in Griechenland ein. Er wendet sich an die Polizei,
die ihm eine Aufenthaltsbewilligung für einen
Monat erteilt. Er kann den Posten erst gegen
Abend verlassen, seit drei Tagen hat er nichts mehr
gegessen. Er schlägt sich nach Athen durch, wo
er über eine Woche umherirrt auf der Suche nach
Personen, die ihm helfen könnten. Er trifft einen
Libanesen, der ihm einen italienischen Pass ver-
kauft. Damit gelangt er nach Mailand und an-
schliessend nach Lugano und Basel.
Der Rekrutierung entgehen
Georges war 15 Jahre alt, als die Syrienkrise aus-
brach. Er wuchs in einem alawitischen Quartier in
Damaskus auf, welches das Regime von Bachar al-
Assad unterstützt. Sein Umfeld versucht, ihn für
Strafaktionen gegen die aufständische Bevölkerung
zu gewinnen. Plünderungen und Vandalismus sind
an der Tagesordnung. Um ihn zu beschützen und
in der Hoffnung, dass sich die Situation beruhige,
schickt ihn sein Vater in den Norden. Dort versu-
chen kurdische Milizen, junge Menschen für den
Bürgerkrieg zu rekrutieren, der in dieser Gegend
tobt. Er hat das Glück, auf die Unterstützung seines
Bruders Antonio zählen zu können, der versucht,
seine Flucht in die Schweiz zu organisieren. Seinem
Vater gelingt es, ihn näher an die Türkei zu bringen.
Mit einer Handvoll anderer Leute kann Georges auf
Bergwegen den Grenzposten umgehen, sie werden
jedoch bald von türkischen Soldaten eingeholt, die
das Feuer eröffnen. Georges rennt so schnell er
kann, bis er auf der anderen Seite der Grenze in
Sicherheit ist. Einige seiner Weggefährten haben
weniger Glück, werden gefasst und niedergeschla-
gen. In der Türkei trifft er auf Landsleute, die ihm
dabei helfen, nach Istanbul zu gelangen, wo ein
Visum auf ihn wartet. Dieses ist ihm, unter Mithilfe
von Privatpersonen in der Schweiz, von seinem
Bruder organisiert worden. Zu guter Letzt kann er
das Flugzeug nach Basel besteigen.
Blick aus der Schweiz
Heute können die beiden Brüder nur auf eine ra-
sche Änderung der Verhältnisse in ihrem Land
hoffen. Sie leben in der konstanten Angst, dass ih-
rer Familie vor Ort etwas zustossen könnte. Antonio
ist immerhin glücklich darüber, dass er die Flucht
seines kleinen Bruders organisieren konnte. Auch
wenn der Konflikt beigelegt werden sollte, ist er
sich doch darüber im Klaren, dass der Wiederauf-
bau nicht einfach werden wird angesichts einer
ganzen vom Krieg traumatisierten Generation.
Die beiden Brüder sind der Schweiz sehr dank-
bar für die Aufnahme, und sie setzen alles daran,
sich zu integrieren. Nachdem er Deutsch gelernt
hat, hat Antonio eine Berufslehre gestartet. Geor-
ges konnte wieder zur Schule, er möchte gern
Informatiker werden. Beide sagen, sie verstünden
die Ängste in der Bevölkerung gegenüber den
Asylsuchenden: «Als die USA den Irak angriffen,
floh mehr als ein Drittel der Bevölkerung nach
Syrien. Anfangs machte uns dieser Zustrom Angst,
aber die Menschen haben sich rasch integriert und
auch mitgeholfen, das Land voranzubringen», fügt
Georges zum Abschluss hinzu.
© UNHCR /Mark Henley